CAP 50

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Truckstop


Der Tankwart war ein alter, gebrochener Mann, mit grauem Haar und einem grauen, zerzausten Bart, der wie ein verlassener Wegweiser in drei der vier Himmelsrichtungen zeigte.

Das Lächeln, mit dem er wohl jeden seiner seltenen Gäste begrüßte, hatte sich tief in sein Gesicht gegraben und unschöne Falten geworfen, wodurch es nicht unbedingt freundlicher wirkte. Dominic fragte sich, wie sehr die menschliche Haut wohl gedehnt werden könnte. Auch das Sprechen schien der Tankwart in seiner ungewollten Isolation verlernt zu haben, den als er seinen Mund öffnete, um eine gelbliche Zahnprothese sehen zu lassen, entfielen diesem dunklen, kleinen Loch nur einige gurgelnde Laute, die Dominic schwerlich enträtseln konnte, aber als Begrüßung deutete. Das einzig Lebendige schienen die Augen zu sein, die Dominic kühl und blitzend musterten. Die Aggression, die Dominic zuerst verspürte, lag aber wohl eher an ihrer wässrig-grünen Farbigkeit, denn der erste Eindruck wechselte schnell zu der Einsicht, dass das Hintergründige in diesem Blick auf einer tiefen Demut vor dem Leben und einer inneren Traurigkeit über das Alter beruhte.

Dominic senkte den Blick, vergaß für einen kurzen Augenblick seine Schmerzen und bestellte eine heiße Schokolade, wobei er hoffte, dass dieser in einer Tankstelle doch etwas sonderliche Wunsch, den Tankwart nicht in Verlegenheit bringen würde. Mit einer Beweglichkeit, die er der kargen Gestalt hinter der Theke gar nicht zugetraut hatte, schwang sich diese von ihrem Stuhl und begab sich, leise vor sich hin brummend, in einen der hinteren Räume, die durch einen geblümten Vorhang vom Verkaufsraum getrennt waren. Bis der Tankwart tatsächlich mit einer dampfenden Tasse Kakao zurückkehrte, was gar nicht so lange dauerte, vertrieb sich Dominic die Zeit damit, im Raum auf und ab zu gehen und in den dargebotenen Zeitschriften, allesamt älteren Datums, zu blättern. Über den Rand der Tasse hinweg, setzte er seine Beobachtungen fort. Der alte Mann hatte wieder auf seinem Hocker Platz genommen, starrte ihm aber nicht mehr ins Gesicht, sondern beobachtete durch die staubigen Fenster das Nichts, das auf der Straße gerade passierte. Er saß einfach da in seiner Ecke, den Körper gerade aufgerichtet, jedoch natürlich, ohne gekünstelt zu erscheinen, nur sein Kopf und seine Augen bewegten sich, eine imaginäre, aber höchst spannende Szene betrachtend. Und eben dies Augen und seine zuckenden Blicke, sein leicht sich wiegender Kopf, brachen aus der restlichen, in sich selbst verankerten Bewegungslosigkeit seines Körpers.

Dies sei noch zu bemerken: Wenn es auch leicht zu übersehen war, und auch Dominic es nicht auffiel, bewegte sich doch eines seiner Beine manchmal minutenlang immerfort in einem schnellen Takt, einem verkrampften Stakkato gleich, auf und ab. Dies gelte jedoch nur am Rande, denn es geschah in immer gleichen Bewegungen und in einem, wenn auch periodisch stärker und dann wieder schwächer werdenden, so doch solch gleichmäßigen Rhythmus, unabhängig aller äußeren Einflüsse, vergleichbar dem für das menschliche Auge stillstehende und dennoch aus vielen fließenden Einzelaufnahmen zusammengesetzte Bild eines Filmprojektors, dass es einer ruhenden Lage des Beines gleichkam. Natürlich nicht für die Augen, eines genau Beobachtenden, aber für dessen Gesamteindruck, eben wie ein oszillierender Quarz, der sich, obwohl ständig und auf das Heftigste schwingend, doch in einer präzisen uneigentlichen Ruhe befand.

In der ganzen Zeit hatte sich sein Lächeln tatsächlich nicht verändert und langsam keimte in Dominic der Gedanke an eine Gesichtslähmung oder ähnliches. Jetzt, wo er in von der Seite beobachten konnte, wie er so dasaß und sich scheinbar nicht um seinen Gast kümmerte, fiel Dominic die Unstimmigkeit seines Körpers ins Auge. Die Beine waren kurz und die Füße leicht nach innen gebogen, als wäre der Mann früher ein passionierter Reiter gewesen; das Becken war schief und der Rücken, trotz der aufrechten Haltung doch gebogen und hatte einen eigentlich nicht zu übersehenden Buckel, die Arme waren zu lang und die Finger mit dichten Gichtknoten besetzt. Überhaupt war die ganze Figur überaus mager und die Kleidung hing an ihm, als gehöre sie seinem großen, fetten Bruder. Und dennoch, trotz des hohen Alters, trotz der krüppeligen Gestalt, trotz aller Unstimmigkeiten und des öligen Geruchs, der von ihm herüberwehte, hatte der alte Mann einen gewissen Reiz, den man allgemein Die Schönheit des Hässlichen nannte, damals.

Dominic konnte sich einfach nicht von dem Anblick losreißen und sein Mund stand schon lange offen. Ohne seine Lippen zu bewegen, den Kopf zu wenden oder gar das Lächeln zu verändern, zischte ihm der alte Mann etwas zu, nicht böse, eher gutmütig im Tonfall, das so ähnlich klang wie:

"Geh hinfort, Du Unwissender, blicke nicht zurück in die Vergangenheit und vergiss die Gegenwart. Trost und Liebe. Ruhe und Gewissen." Zwei Kilometer weiter auf der Straße wunderte sich Dominic, wie schnell er trotz seiner Verletzung zu seinem Wagen gesprungen und abgefahren war, und wieso er die ganze Zeit zu diesem Mann Vater hatte sagen wollen. Nele wartete mit ihren großen Augen und all ihrer Aufmerksamkeit, die sie zu verschenken hatte.


Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt