CAP 20

1 0 0
                                    

Falscher Fehler


An diesem Abend stand er wieder am Fenster. Stumm und starr, und der Wind zerrte an seinem langen Mantel. Doch er schien es nicht zu bemerken, wie auch nicht die feuchte Kälte, die langsam an seinen Beinen hoch kroch. Er stand einfach da draußen in der halben Dunkelheit, den fahlen Mond im Rücken, und starrte gebannt auf die Szenerie, die sich ihm in dem schwach erleuchteten Raum darbot.

Meeryl und Dominic hatten sich wieder gefunden. Sie lagen nebeneinander auf dem Teppich vor dem Kamin, hielten sich ganz fest, und trotz des Altersunterschieds fühlte sie sich in seinen stark behaarten Armen wohl und geborgen. Meeryl erzählte von einem wirren Traum, den sie vor kurzem gehabt hatte, doch Dominic hörte nicht richtig zu, sondern betrachtete interessiert einen jungen Mann, der traurig vor dem Fenster stand und sie schon eine ganze Weile beobachtete. Irgendwie war er von ihm fasziniert, und tief in ihm kam wieder dieses Gefühl auf, das ihn an so vielen Abenden in Besitz genommen hatte, diese Sucht nach dem Extremen, nach dem Gegenteil vom Normalen, welches er vorhin durch diese abscheuliche Handlung mit Meeryl vergeblich zu verdrängen versucht hatte. Denn auch wenn sie so eine burschikose Figur hatte, so war es nicht dasselbe.

Dominic wusste es nicht, was ihn so an diesem Mann faszinierte. Vielleicht war es seine Jugend oder die Figur, vielleicht auch nur seine Art, nachts anderen Leuten beim Liebesakt beizuwohnen, auch wenn es nicht viel zu sehen gab. Vielleicht war es aber auch nur, dass er so ruhig dastand, obwohl sich Dominics Wohnung im sechzehnten Stock befand und der Sims vor dem Fenster höchstens einen halben Meter breit war. Dominic wusste es einfach nicht. Er stand auf, ging zum Fenster und schloss die Läden. Auf dem Weg zurück zur Hausbar vernahm er von draußen ein hässliches, aufschlagendes Geräusch. Er hielt kurz inne, lächelte Meeryl an und suchte dann den Instant-Kaba für zwei heiße Schokoladen. Bis die Milch heiß war, und Dominic begann, das stark duftende Pulver unterzurühren, hatte sich Meeryl wieder angezogen und frisch gemacht. Sie schaltete das Radio ein, und alsbald war der ganze Raum mit einem herrlich einschläfernden, pulsierenden Rauschen erfüllt. Nach etwa zehn Minuten wählte Dominic einen halbwegs vernünftigen Sender und nahm in seinem Ohrensessel Platz. Irgendwann würde er ihr mal erklären, wie man ein Radio bedient. Irgendwann. Für's erste nahm er sich ein Buch und las, bis der Morgen graute und er sanft einschlief.

Meeryl hatte noch ein wenig aufgeräumt, genäht und sich sonst noch ein wenig nützlich gemacht und war dann gegangen. Als sie sich in ihr Auto setzte und losfuhr, holperte sie über etwas drüber, was sich nach dem Aussteigen als großer, blutigroter Fleischklumpen entpuppte. Augenscheinlich war wieder ein Hund überfahren und achtlos in den Rinnstein geworfen worden. Menschen konnten grausam sein.




Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt