CAP 53

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Wieder Mond


Als sie die Straße entlang stapfte, rissen die Wolken auseinander und plötzlich stand er da, der Mond, weit über ihr in seiner kalten fahlen Pracht und erhellte die klare Nacht. Er schaute nieder auf seine große Schwester, die Erde.

Was war es nur, das Nele so unruhig zittern ließ, in den Zeiten, in denen er ihr sein ganzes, rundes Gesicht zeigte, in den Nächten, in denen er ihr erschien, als sei er ein großes, teilnahmsloses Auge? Warum war sie beunruhigt, wenn sie ihn sah, warum gleichzeitig fasziniert? Stundenlang konnte sie ihn beobachten, manchmal erschien er ihr so fern, so überlegen; manchmal wollte sie ihre langen Finger strecken, um ihn zu klauen und unter ihrer Decke liebevoll zu streicheln. Wie ruhig musste es dort oben bei ihm sein - wie einsam. War er nun ihr Freund, der schützend über ihr wachte, der ihre Feinde durch sein helles Licht davon abhielt, sie schamlos niederzuknüppeln (wenn sie dies denn vorgehabt hätten); oder war er gar ihr Feind, der sich bald hinter den Wolken versteckte, bald in drohender Pose über den Menschenwürmern thronte, um sie zu verwirren und ins Unheil zu treiben? Warum dachte sie in solchen Nächten so oft an den Tod? War es die Kälte, die Ruhe? War es sein hämisches Lachen, dass sie so oft zu vernehmen glaubte oder nur die unnahbare, unerreichte Nähe, wenn sie so betrachtend dahin schritt und sich den Kopf beobachtend verdrehte? Woher kam der Sog, der sie aus der schützenden Stadt hinaus in die begrenzte Freiheit der Felder zog, und warum blieb sie trotzdem so standhaft auf ihrem Weg? Woher kam das Misstrauen, und was sollten all die Fragen?

Sie blieb stehen und riss ihre Blicke weg von dieser grauen, staubigen Scheibe und dachte an jene Menschen, die es gewagt hatten, seine Ruhe zu stören, ihn zu berühren, zu treten und zu besudeln. Sie hasste sie, denn sie hatten ihren Mond belästigt, ihren armen einsamen Freund, der ihr so gerne beistand. Sie dankte ihnen, denn sie hatten ihn entehrt, ihn beklaut und verhöhnt, diesen Feind, der so grausam und herzlos unschuldige Menschen quälte und grausam richtete. Dennoch, sie mochte es nicht missen, dieses weiche, pockennarbige Gesicht. Es war ein Teil der Erde, ein Teil von ihr, es war der Spiegel, in dem alles so klar erschien. Sie wollte ihn klauen und nur für sich behalten. Sie wollte ihn haben, sie, sie, sie. Und trotzdem war er ihr Feind, denn er erweckte seltsame Gefühle in ihr, ihr, ihr...


Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt