CAP 36

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Der Mond im Manne



Sie rauchte viel in letzter Zeit, meistens abends, so wie jetzt, wenn sie nicht einschlafen konnte und sich stundenlang im Bett umher wälzte oder in der Wohnung auf und ab ging. Stundenlang hörte sie Musik oder ließ den Fernseher laufen, wenn etwas kam, was sie interessierte, was freilich seltener der Fall war. Lieber hielt sie sich an ihre Musik, die sie sich aussuchen konnte, die sie kannte. Alle ihre Schallplatten, alle ihre Kassetten; ein Leben voller Erinnerungen hing an ihnen, freudige und leidvolle, manche mit erheblichem Schmerz verbunden, und jedes Mal, wenn sie eine anhörte in diesen Abendstunden, stellte sich eine bestimmte Stimmung ein, eben jene, die sie hatte, als sie die Musik zum ersten Mal hörte. Dementsprechend wählte sie auch die Platten aus, manchmal, um ihren Stimmungen entgegenzuwirken, manchmal um auf andere Gedanken zu kommen, meistens jedoch um zu meditieren, oder besser gesagt, um in ihren Erinnerungen zu schwelgen.

Heute jedoch versagte das Ganze irgendwie, sie konnte sich nicht beruhigen, ihre Gedanken schweiften ab, und die Erinnerungen wurden undeutlich, verloren sich in verschwommenen Bildern, seltsam, fremd. Sie hatte auch schon versucht, etwas zu schreiben, denn sie hatte wohl bemerkt, welch eine beruhigende Wirkung dies auf Dominic hatte. Doch es half nichts, sie fand, sie sei nicht begabt (ein fataler Fehler übrigens). Sie setzte sich auf, rieb ihre Hände, schaute aus dem Fenster und erblickte den Mond zwischen den wenigen Wolken, mit seiner fahlen Aura, mit seinem gutmütigen Gesicht. Plötzlich spürte sie, daß sie in dieser Nacht nicht zuhause bleiben konnte, nicht bleiben würde. Schnell schwang sie sich aus dem Bett, zog sich etwas über und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Sie trat in den dunklen Flur, suchte den Lichtschalter, fand ihn aber nicht direkt. Das störte sie nicht weiter, denn der Mond schien so hell, dass sie sich ganz gut zurechtfand, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schnell schritt sie den Flur entlang, die Treppe hinunter in den Salon. Hier hielt sie inne. Wie seltsam es war, hier in der Dunkelheit so allein zu stehen. Alles war still, nur das gleichmäßige Ticken der großen Standuhr war zu hören. Erst wollte sie wieder umkehren, wollte wieder hinaufgehen und sich hinlegen, doch jetzt hatte sie etwas ergriffen, nicht etwa Neugierde, aber es war doch sehr ähnlich. Sie öffnete die Haustür und trat auf die Straße. Mit einem leisen Klicken schloss sich die Türe hinter ihr, doch das interessierte Meeryl nicht, jetzt war sie draußen und schaute fasziniert auf das große Mondgesicht, das sie so liebevoll anlächelte und jetzt zu ihr sprach.

"Komm zu mir", hörte sie es flüstern, "Komm, hab' keine Angst, ich helfe Dir, komm!"

Meeryl verspürte eine magische Kraft, die sie vorwärts trieb. Wie gebannt starrte sie auf das junge, männliche Gesicht, das da oben auf sie wartete. Das war Paul! Paul! Er musste es sein! Paul, Paul, ihr Paul! Freudentränen erschienen auf ihren Wangen, sie fühlte die alte Sehnsucht, aber spürte nicht den kalten Wind, der durch die Straße zog. Weiß schimmerte ihr Morgenmantel, als sie die Straße entlanglief, die Augen fest nach oben gerichtet und dem Säuseln der eindringlich sanften Stimme lauschend.

"Komm Meeryl, komm, ich bin's Paul, ich warte auf dich, komm, komm!"

Sie rannte, weinte, flehte nach Erfüllung dieses Wiedersehens. Zu spät sah sie die beiden Lichtfinger, die sie erfassten, zu spät hörte sie das hohe Singen blockierender Reifen auf dem Asphalt, zu spät erwachte sie aus ihren Träumen. Dann sah, hörte und träumte Meeryl gar nichts mehr. Es war ein Rover P4, hellrot wie das Blut, das der geschockte Fahrer jetzt aus ihrem Morgenmantel quellen sah. Meeryl starb noch auf der Straße liegend, mit seltsam, ja fast abwehrend, verdrehten Gliedern. Und dem Fahrer war es, als höre er ein leises, hämisches Lachen, das vom Himmel erscholl. Eine schlimme Nacht fürwahr.



Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt