CAP 42

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Nele


Das Mädchen, das Dominic mitgenommen hatte, war Nele gewesen, und sie brachte ihn in eine schwierige Situation. Eigentlich hatte er sie nur eingeladen, weil sie ihm gefiel und er etwas Gesellschaft gut gebrauchen konnte. Und er hatte viele neue Geschichten geschrieben, die er gerne jemandem vorlesen wollte, um ein Urteil zu erhaschen. Doch Dominic hatte sich wieder einmal nicht beherrschen können und verlas nicht nur seine Geschichten, sondern erzählte freimütig aus seinem Leben und machte Nele einige Komplimente, freilich ohne Hintergedanken, aus Höflichkeit, ob ihrer Figur und ihrem Scharfsinn in Bezug auf die Beurteilung und Deutung seiner Werke. Geschmeichelt hatte Nele den Blick gesenkt und war leicht errötet, und sofort war Dominic bewusst, dass er wieder einmal zu weit gegangen war. Doch auch Nele war nicht ganz unbeteiligt daran. In der Tat fand sie seine Texte gut, und er hatte so eine angenehme Art zu reden, und eh sie sich versah, war sie schon von ihm fasziniert.

Sie hätten es früher bemerken sollen, doch so waren beide wieder in einen Situation geraten, die von Minute zu Minute peinlicher wurde, weil durch das lang gezogene Schweigen, das sich beständig ausbreitete, mehr gesagt wurde, als wenn sie sich gegenseitig zugelabert hätten. Wie gerne würde er jetzt zu ihr gehen und sie umarmen und küssen, aber es gab so viele Hindernisse und Zwänge, die ihn davon abhielten. Schließlich war er es dann, der sich aufraffte und zum Fenster ging, um hinauszusehen und das große Schweigen ein wenig zu entschärfen. Nele schlug vor, ihn jetzt zu verlassen und später noch einmalnoch vorbeizuschauen, wenn etwas Zeit verstrichen war und sie Abstand gewonnen hätten, zu dieser seltsamen Begebenheit. Dominic freute sich, daß nicht er diesen Vorschlag hatte machen müssen, und so reichte er ihr ihren Mantel. Das mochte ein Fehler sein, doch er ging das Risiko ein und vertraute auf seine Gefühle, und so ging sie hinaus.

Als Nele im Fahrstuhl stand, und die viele Etagen an ihr vorbeirauschten, wunderte sie sich, wie diese komische Situation hatte entstehen können, denn es war nicht etwa so, dass sie sich in Dominic verliebt hatte (sie glaubte zu diesem Zeitpunkt noch nicht an Liebe auf den ersten Blick), aber er war nett und übte eine gewisse Faszination auf sie aus, wenn er so ruhig dasaß und erzählte. Er wusste so viel und dennoch war ihm so vieles fremd und gleichgültig. Und er war so völlig ohne Vorurteile, so gemein-naiv, nein, einen solchen Mann hatte sie noch nicht erlebt. Sie würde ihn sicher noch einmal besuchen. Dominic hatte ähnliche Gedanken, als er so am Fenster saß, hinter sich den Teppich, auf dem schon Meeryl und so viele andere Platz genommen hatten, und tief unter ihm diese junge Frau, die gerade sein Haus verließ und ihn den ganzen Nachmittag unterhalten hatte, ohne viel zu sagen. Warum nur kannte er so viele Mädchen mit Mandelaugen und jungenhaften Figuren? Manchmal war es wirklich zum verzweifeln. Wo war der Unterschied, wie sollte er je zwischen den Geschlechtern unterscheiden können? Es war wohl besser, alleine zu bleiben, als ständig unzufrieden zu sein, oder etwa nicht? Dominic beschloss eine Münze zu werfen, die jedoch im weichen Flor des Teppichs stecken blieb und sich weder zur einen noch zur anderen Seite neigte. Und wenn man auf der Straße genau lauschte, hörte man an diesem ruhigen, jungen Abend einen lang gezogenen, verzweifelten Schrei, der erst erstarb, als er sich in einen Hustenkrampf wandelte.


Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt