CAP 45

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Die See



Dominic gönnte sich einen Urlaub. Er hatte das ganze Jahr über Visionen gehabt und Geschichten geschrieben und fühlte sich nun recht ausgelaugt. Endlich wollte er sich mal seinen alten Wunsch erfüllen und den Herbst erleben, wie er wirklich war, rau, hart und traurig.

Er war an die See gefahren, ohne groß zu planen, nur die nötigsten Sachen im Wagen, dazu ausreichend Papier und einige Stifte, falls es ihn doch keine Ruhe finden sollte, so ganz ohne Arbeit. Er spazierte den ganze Vormittag auf dem Deich herum, ohne rechtes Ziel, immer geradeaus, zur einen Seite die Marsch mit ihren kargen Gräsern, zur anderen das aufgewühlte Meer, von dunkelgrüner Farbigkeit, mit weißlich schimmernden Kronen, dort wo es auf Felsen traf oder sich leicht glucksend den Deich herauf fraß. Dominic hatte den salzigen Geschmack auf der Zunge und den Lippen und der Wind pfiff ihm um die kalten Ohren. Doch auch wenn ihm mittlerweile die Nase lief, stimmte ihn das nicht verdrießlich, im Gegenteil, er fühlte sich wohl, dick verpackt im wärmenden Mantel und die Hände tief in den Taschen vergraben. Er schaute auf das Meer hinaus, der Wind blies ihm scharf ins Gesicht und trieb einige Tränen in seine Augen. Die raue See hatte ihn zwar noch nicht oft gesehen, doch die wenigen Male hatten sich tief in sein Gedächtnis gegraben. Das größte Erlebnis widerfuhr ihm auf einer Überfahrt nach Island, als das Schiff in einen infernalischen Sturm geriet und schwer stampfend die dunkle Nordsee durchpflügte. Er war wohl der einzige, der sich in dieser Nacht nach draußen gewagt hatte, doch es hatte sich gelohnt. Die See brüllte und zerrte an seinen Sachen, der Wind trieb ihm die Gischt ins Gesicht, schlimmer noch als jetzt, und presste seine Brust wie in einem riesigen Schraubstock zusammen, dass er kaum atmen konnte. Wie betäubt hatte er sich damals den Kräften der Natur hingegeben und gehofft, der Sturm und die Überfahrt würden nie zu ende gehen. Er wurde bitter enttäuscht. Aber heute, mit diesem frischen Geruch und dem salzigen Geschmack, kam die süße Erinnerung an jene Tage zurück. Dominic öffnete seinen Mund und ließ einen Schrei erschallen, der fast den Lärm des tosenden Wassers übertönte. Dieser Schrei, er mag wohl eine halbe Minute gedauert haben, befreite Dominic von allen Sorgen des Jahres, von der Trauer über den schmerzlichen Verlust all seiner freunde, von dem Gefühl der Einsamkeit und der Unschlüssigkeit darüber, was er mit Nele machen sollte. Ja, Nele, eigentlich hatte er sie mitnehmen wollen, es wären schöne Abende geworden, doch sie musste lernen, musste Prüfungen bestehen und Stress bewältigen. Dominic verstand es nicht, ließ sie aber gewähren, er würde sie ja bald wieder sehen, wenn er zurückkehrte, aufgefrischt, voller neuer Lebensfreude und befreit von den Lasten des Alltags. Lange konnte es nicht mehr dauern und Dominic platzte fast vor Vorfreude.



Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt