CAP 16

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Erste Heimkehr


Schon seit Stunden saß er im Café. Draußen war es schauerlich kalt, und alle Passanten, die vorübergingen, hatten weiße Atemfahnen vor ihren Köpfen, die ihre Gesichter verdeckten. Er beobachtete sie durch ein kleines Loch in den Eisblumen am Fenster, das sich durch die aufsteigende Wärme eines Heizkörpers gebildet hatte. Dieses Loch wurde beständig größer und gab so im Laufe der Zeit ein immer besseres Bild von dem, was sich auf der Straße tat.

Philipp war daran nicht weiter interessiert, weil er niemanden erwartete, doch er versuchte immer wieder ein Gesicht zu erhaschen, und ein bekanntes wieder zu finden. Deswegen war er auch in dieses Café zurückgekehrt, denn es war jenes, in dem er vor der Zeit des großen Krieges stundenlang mit Victor und Dominic gesessen und seine heiße Schokolade getrunken hatte. Eine solche stand auch jetzt wieder vor ihm. Es hatte sich nicht viel verändert, die Einrichtung war neu und die Preise waren gestiegen, aber die Stimmung war die alte geblieben. Als er heute Morgen das Lokal betreten hatte, wollte er schon instinktiv Sahra herbeirufen, doch die war schon lange tot, oder verzogen oder ausgewandert oder sonst was. Es interessierte ihn nicht. Er war nur etwas traurig, sich nicht mehr über ihren dicken Hintern lustig machen zu können. Und ein heißer Hauch von Wehmut streifte sein Herz. Anstelle von Sahra bediente jetzt eines dieser neumodischen Mädchen, weder vorne noch hinten Fleisch, aber doppelt so lange Beine wie früher. Er war enttäuscht.

Die Tür öffnete sich und eine junge Frau trat herein. Sie sah sich kurz um und setzte sich dann, ihm gegenüber, an einen freien Tisch. Sie hatte langes, braunes Haar, welches ihre Schultern bedeckte, und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet. Als die Bedienung kam, bestellte sie eine heiße Schokolade, was Philipp ihr hoch anrechnete. Sie war anscheinend keines von diesen jungen Flittchen, die sich nur mit dem Alkohol länger vertrugen. Philipp mochte dieses Mädchen. Wie sie so dasaß, erinnerte sie ihn stark an Eloise. Damals hatte auch sie diese mehr jungenhafte Figur gehabt und trotzdem so aufreizend lange Beine. Und diese Mandelaugen! Philipp war wie besessen von ihrer Anmut, und wie sie ihn jetzt so ansprach, bemerkte er es gar nicht so richtig, sondern seine Blicke ergötzten sich an den Bewegungen ihrer Lippen. Trotzdem gab er sich nicht die Blöße, erkennen zu lassen, dass er ihr gar nicht zugehört hatte, sondern zündete bereitwillig die hervorgeholte Zigarette an. Dabei blickte er ihr in die Augen, es tat einen Schlag und seine Gedanken purzelten zwölf Jahre zurück.

Sie war eine jener Bekanntschaften, die man so leicht vergisst, wenn die Jahre ins Land ziehen, wenn man älter wird. Aber dann, in einsamen, ruhigen Stunden, kommt die Erinnerung zurück und man ist nicht selten froh, dass die Vergangenheit nicht für immer verloren ist. Und wehmütige Augen füllen sich leicht mit dunklen Tränen. Er hatte sie nie so richtig gekannt und auch eigentlich nicht lange mit ihr zu tun gehabt, ein halbes Jahr vielleicht, aber das auch höchstens. Kurz, wenn man es im Nachhinein betrachtet. Ganz anders aber damals, dann. Es war schon seltsam, wenn die Gedanken kamen. Seltsam und auch selten, leider. Sie war so anders als andere Mädchen ihrer Zeit. Jedenfalls kam es ihm so vor, heute dachte er manchmal anders darüber. Doch das sollte jetzt nicht interessieren. Es war auch nicht dieses, das sie ihm von Zeit zu Zeit nahe brachte - dieses nicht. Sie war so anders, weil sie nicht den Vorstellungen entsprach, die man zu ihrer Zeit den Mädels entgegen brachte. Ihr brauchte man eigentlich gar nicht so viel entgegen zu bringen, sie kam von selbst auf einen zu, forsch, wild und aufgekratzt, trotzdem liebevoll. So war es jedenfalls bei ihm. Wie es sich mit anderen verhielt, hatte ihn nie besonders interessiert. Das war es wohl auch, was es ihm heute so schwer machte, ein korrektes Bild von ihr zu zeichnen. Für ihn war sie immer jenes Mädchen, das manchmal still, manchmal aufgedreht bei ihm weilte, und nie jene Persönlichkeit in ihren Bindungen, die sie wirklich war und später von ihm trieb. Manche mochten ihm vorhalten, dass es ein Fehler gewesen sei, aber er wusste, dass sie es genossen hatte, genau so, wie es war, dass sie einfach füreinander da waren, wenn es nötig schien, ohne dass sie sich gegenseitig in ihre Angelegenheiten einmischten. Es hatte lange gedauert, bis sie merkten, dass sie mehr verband, als nur das Zusammenleben in der gleichen Stadt und das durch das äußere Gefallen bedingte gegenseitige Interesse. Obwohl er es schon länger gespürt hatte, verstand er es erst, als es schon fast zu spät war. Wie es bei ihr war, konnte er heute nicht mehr beurteilen, aber er meinte, sie hatte es schon länger durchschaut gehabt. Warum wusste er auch nicht. Vielleicht weibliche Intuition?

Sie waren beide nicht sehr erfahren, vorher, ein kleines Abenteuer hier und da, nichts Ernstes, selbst ihre Eltern hätten gelächelt, wenn sie es gewusst hätten. Die großen Taten bestritt man damals in den langen Gesprächen mit den Freunden und in endlosen Träumen feucht-schwüler Spätsommernächte. Doch es reichte aus, um ein gewisses Knistern zu entfachen und sie große Aufregung vor der ersten Tat zu mildern. Dazu kam dann noch jener zeitlose Abend unten am Fluss. Man hatte sich eigentlich nur getroffen um die gefundenen Gemeinsamkeiten zu pflegen und sich gegenseitig mit Geschichten zu beeindrucken, die man sowieso nicht glaubte. Doch das war auch interessant, sie konnten beide gut zuhören, und das half ungemein. Irgendwann kam dann der Augenblick, an dem alle zuhörten und keiner erzählte, und dann lehnte man sich zurück, betrachtete die Sterne und irgendwann fanden sich zwei jugendliche Hände in einer leicht verkrampften Umklammerung und mehr. Seitdem war alles anders. Die gewisse Unsicherheit war verschwunden, und stattdessen hatte sich ein stilles Vertrauen eingestellt, und dennoch kannte er sie kein Stück besser. Auch später lernte er zwar ihren Körper kennen und ihre sanften Blicke schätzen, doch ihre Persönlichkeit hatte er wohl nie verstanden, wollte das auch nicht. Es fiel ihm schwer, zu sagen, was nun eigentlich zu sagen war, bedrängt durch Zweifel und Hemmnisse, die ihm so manches Mal die einfachsten Dinge zu Qualen werden ließen. Seine Wünsche waren klar umrissen, und nie hätte er irgendwelche Zweifel an ihrer Legitimität gehabt. Selbst an jenem anderen Tag nicht, als sie ihn zu sich einlud, unbefangen in ihrer Jugendlichkeit, ohne Hintergedanken und dennoch mit fester Absicht, den Abend mit ihm zu einer positiven Erinnerung werden zu lassen. Ihm erging es ebenso. Sie trafen sich, redeten und kochten zusammen und es wurde spät über den Geschichten, die sie sich erzählten, ohne Unbehagen, mehr um sich abzulenken, spät über etliche Tassen Tee, den sie aufbrühten und dessen Geruch sich bald schwer durch alle Zimmer bewegte und zusammen mit dem gedämpften Licht eine angenehme Stimmung aufkommen lies. Es wurde spät und die Sonne war längst verschwunden, ohne dass dies bemerkt oder gar entsprechend gewürdigt worden war, von den beiden, die sich immer intensiver in die Augen zu schauen schienen. Und der Mond stand schon hoch und fahl am Nachthimmel, als sie sich erbot, ihm ein Bett einzurichten. Dies überraschte ihn weniger, er hatte es erwartet, wenn er sich auch nicht geweigert hätte, den Heimweg anzutreten oder es etwa selber vorzuschlagen. Doch nun hatte sie es getan und da sie ihm die Entscheidung überlies, ohne Bedingungen, war er der Pflicht enthoben, abzulehnen. Über die folgende Nacht ist nicht viel zu berichten, außer vielleicht, daß sie sehr dunkel war, denn der Mond war lange durch langsam treibende, dichte Wolkenschwaden verhangen, und so sehr er sich auch bemühte, sein Licht konnte die Erde nicht erreichen. Am Morgen danach gab es heftige Regenschauer, die sich mit eisigem Hagel vermischten, eigentlich ungewöhnlich für die Jahreszeit, doch die beiden interessierten sich nicht dafür, sondern nahmen es dankbar als Grund, das Bett nicht verlassen zu müssen, und unmittelbar in der kuscheligen Atmosphäre eines verschlafenen Morgens an die Geschichten des Vorabends anknüpfen zu können.

Ja, so war das mit ihr damals, aber es war auch ganz anders. Und jetzt saß er hier, und sie saß da und er brachte es nicht fertig, es ihr zu sagen, wollte das auch nicht. Er war zufrieden und fühlte sich alt.


Einer ist schon tot. Ein Leben auf Raten.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt