Harold✅

1.4K 124 7
                                    

Als die Durchsage, dass die nächste Bahn in wenigen Minuten einfährt, ertönt steht er langsam auf und stützt sich an der Säule ab.  Er steckt seine Hände in die tiefen seiner Jackentasche und bewegt sich auf die Gleise zu. Ich stehe noch immer an der gleichen Stelle, präge mir seine Silhouette ein, seine breiten Schultern unter seinem schwarzen Mantel, die schlanken Beine stecken in schwarzen, engen Jeans und an seinen Füßen trägt er einfach schwarze Boots. Würde man ihm auf der offenen Straße begegnen würde man wohlmöglich die Straßenseite wechseln oder sich mental darauf einstellen, in wenigen Sekunden überfallen zu werden.

Die Bahn ist bis auf einen Mann in unserem Alter komplett leer. Ich setze mich dem Kapuzenjungen, dessen Namen ich noch immer nicht weiß, gegenüber, will ihn nicht belästigen oder zu nahe treten. Als die nächste Station aufgerufen wird, steht er auf und stellt sich neben die Türe, seine Hände umfassen die Metallstange und das Geräusch von Metall auf Metall erklingt.

"An welcher Station wirst du aussteigen?", frägt er ohne seinen Blick von der Türe abzuwenden. Kurz zögere ich zu antworten, wieso will er wissen wo ich aussteige? "Übernächste Station.", meine Stimme ist leise, unsicher und ich kann nicht sagen wieso. Er dreht seinen Kopf in die Richtung des Mannes, der ebenfalls in unserem Abteil sitzt. Ohne ein weiteres Wort zu sagen setzt er sich wieder auf einen der unbequemen Plastikstühle, dieses Mal aber nicht mir gegenüber sondern neben mich.
Im Augenwinkel sehe ich wie der blonde Mann in unsere Richtung starrt, ich kann seinen Blick nicht genau deuten aber er sieht nicht gerade erfreut aus.

"Wie heißt du?", meine Stimme zittert als ich dem Kapuzenjungen diese Frage stelle, weiß nicht wie er darauf reagieren wird. Eine unangenehme Stille breitet sich aus und mein Handflächen beginnen zu schwitzen. Ich bereue es fast ihm diese Frage gestellt zu haben.

"Harold."

Ich zucke kurz zusammen, habe nicht erwartet, dass er mir eine Antwort geben würde, mir seinen Namen verrät. Die Art und Weise wie er diesen ausspricht und mir allein durch seine Stimme eine Gänsehaut beschert.

"Ich heiße Megan.", meine Stimme ist noch immer unsicher, kann es noch nicht wirklich verarbeiten, dass der Kapuzenjunge jetzt einen Name hat.

Er ist jetzt Harold und nachdem ich diese erste, wichtige Information herausgefunden habe, will ich noch mehr über ihn wissen. Ich will wissen wer Harold ist.

Er sagt nichts mehr, hat seine Ellenbogen auf sein Knie gestützt und sieht wieder zu Boden, wie so oft. Die Frage, wieso er sein Gesicht versteckt, liegt mir auf der Zunge aber da er mir heute Morgen keine Antwort darauf gegeben hat, bezweifle ich, dass er es jetzt tun wird.

Ich steige hinter ihm aus der Bahn aus und während ich auf die Rolltreppe, die mich nach oben ans Tageslicht bringen wird zugehe, sehe ich wie er auf den Gegenüberliegenden Bahnsteig zu geht und auf die Bahn zurück wartet.

Mit meinem Blick zu ihm gerichtet fahre ich nach oben, frage mich wieso er diesen Umweg gefahren ist und wieso er sich freiwillig neben mich gesetzt hat.

Als ich zu Hause ankomme steht Lenn schon vor meiner Tür und ich verfluche mich selbst dafür, dass ich unsere Verabredung vergessen habe. Er umarmt mich zur Begrüßung und küsst mich kurz auf den Mund.

Einen Moment bin ich erstarrt und vollkommen Überfordert mit der Situation. Er folgt mir in meine Wohnung und setzt sich an den Küchentisch. "Fühl dich wie zu Hause, ich geh kurz Duschen.", ich lege meine Tasche auf einen der freien Stühle. Bevor ich allerdings weggehen kann, zieht er mich an meiner Hüfte zurück, sodass ich auf seinen Schoß falle. Ich spüre seine Lippen und seinen Atem an meinem Hals.

"Ich fühle mich eklig und will jetzt duschen gehen.", ich winde mich aus seiner Umarmung und verlasse dann die Küche. Vorsorgemäßig sperre ich Badezimmertür ab und beginne mich auszuziehen. Während das warme Wasser über meinen Körper prasselt stelle ich mir vor wie Harold wohl aussieht? Hat er braune Augen oder blaue? Wie sehen seine Augenbrauen aus? Hat er eine große Nase? Welche Farbe haben seine Lippen? Hat er ein markantes Gesicht? Die Tatsache, dass ich ihn erst Dienstag wieder sehen werde, wenn überhaupt, macht mich traurig .

Erst als das Wasser langsam kälter wird, wickele ich mich in ein Handtuch und trockne meine Haare. Ich vergesse völlig, dass Lenn draußen auf mich wartet, bis er gegen die Tür klopft und mir mitteilt, dass er ganz schnell weg müsste.

Ich verabschiede ich durch die geschlossene Türe, habe im Moment nicht das Bedürfnis danach ihn zu sehen, noch mit ihm zu reden. Ich will im Moment nur mit Harold reden, ihn kennenlernen und ich sehe es als mein Persönliches Ziel dies zu erreichen.

Paranormal | H.S. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt