Was ist mit dir?✅

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Fassungslos, wütend, traurig und vor allem verwirrt sehe ich ihn an und würde mich am liebsten im Badezimmer einschließen und den ganzen Tag weinen.

Die Art wie er mich ansieht, diese Leere und Unsicherheit, lässt mich erkennen, dass er es komplett ernst meint.

„ Harry, Ich bin's Meg, Megan. Du bist in meiner Wohnung und-.", ich atme tief durch, weiß nicht was ich tun soll, genauso wie Harry.

„Warte.", er sieht sich um, hebt die Decke nach oben und schiebt sie dann von sich. Als er seine Jacke entdeckt, die ich gestern über den Stuhl gelegt habe, greift er schnell danach und tastet die Taschen ab. Als er ein kleines schwarzes Lederbuch herauszieht setzt er sich wieder neben mich und durchblättert es. Er zieht ein Stück Papier hervor und hält es neben mein Gesicht, dann fängt er an zu Lächeln.

Es ist erst das zweite Mal, dass ich ihn wirklich Lächeln sehe. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen verfolge ich jeder seiner Bewegungen, wie er das Stück Papier zurück steckt, weiter blättert und konzentriert die handgeschriebenen Wörter liest. „Harry?", frage ich vorsichtig, ich will ihn nicht erschrecken da er so vertieft in das Buch ist. Trotz meiner leisen Stimme schreckt er hoch und sieht mich erschrocken an.

„Was ist mit dir?", die Frage, auf die ich noch nie eine Antwort bekommen habe, vor der ich selbst so viel Angst habe sie zu stellen. Einerseits will ich alles über Harry wissen, woher diese Narben und Flecken kommen die er so sehr zu verstecken versucht, wieso er so emotionslos ist, kaum lächelt und vor allem wieso er solche Schmerzen hatte und ausgerechnet bei mir auftaucht. Ich will wissen was in diesem Buch steht, was auf dem Papier zu sehen ist. Bevor Harry aber überhaupt irgendwas sagen kann, kommt Noah ins Wohnzimmer und lässt sich direkt neben Harry fallen, als er ihn gesehen hat.

„Geht es dir wieder gut?", fragt er in seiner kindlichen Stimme und als Harry mich mit einem undefinierbaren Blick ansieht weiß ich zuerst nicht was er von mir möchte. Dann aber kommt mir in den Sinn, dass es sein könnte dass er sich auch nicht an Noah erinnert.

„Noah, hol dir doch erstmal was zum Frühstück.", sage ich lächelnd und sehe Harry an während ich den Namen meines Bruders sage, in der Hoffnung er würde sich wenigstens an ihn erinnern. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie enttäuscht Noah wäre wenn Harry sich nicht an ihn erinnern kann. Schnaufend steht er auf und verschwindet in der Küche als Harry leicht aufatmet.

„Danke.", murmelt er beschämt und spielt mit seinen Fingern. „Wirst du mir irgendwann erzählen was mit dir ist?", irgendetwas in mir sagt mir, dass er gar nicht darüber reden will, dass er es selbst vergessen will aber nicht kann. Dass er Dinge die er vergessen will nicht vergessen kann und Dinge die er in seinen Gedanken behalten will, vergisst.

Es ist vollkommen normal, dass er mir nicht so weit vertraut, dass er mir seine Lebensgeschichte erzählt, dass er mir nicht alles sagt was ihn belastet. Wie sollte ich ihn dafür verurteilen, wir kennen uns kaum. Er zuckt leicht mit den Schultern und scheint fast erleichtert als Noah zurückkommt mit zwei Schüsseln Müsli. Als er Harry die größere Schüssel hin hält beiße ich mir auf die Lippe, da diese Aktion von Noah mal wieder beweist wie sehr er Harry mag.

„Bekommt Megan nichts?", fragt Harry nachdem er den ersten Löffel Müsli gegessen hat. Noah schüttelt lachend den Kopf und wird dann wieder ernst.

„Meg frühstückt nie und sie mag es nicht Megan genannt zu werden.", erklärt er und bringt mich damit zum lachen. Ohne weiter auf das gesagte einzugehen, fragt Harry nach einem Stift und nachdem ich ihm einen der Kugelschreiber neben der kleinen Lampe gegeben habe, fängt er an etwas in sein Buch zu schreiben.

Unauffällig lehnt Noah sich nach vorne um zu sehen was Harry schreibt, aber sobald dieser es bemerkt, klappt er die Seiten zu und steckt es zurück in seine Tasche. Bis die beiden ihr Frühstück aufgegessen haben, bleibt es still. Das einzige was man hört, ist das klirren der Löffel gegen die Porzellanschüssel. Die Stille wird von der Türklingen unterbrochen und gerade als ich aufstehen will läuft Noah schon zur Tür.

„Meg hier ist ein Lenn.", ruft er durch den Flur und augenblicklich versteift mein Körper. Ich habe die letzte Zeit keinen einzigen Gedanken an Lenn verschwendet und ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass er plötzlich vor meiner Tür steht. Vorallem nicht wenn Harry gerade hier ist. Lenn würde denken ich und Harry hätten eine Beziehung. Nicht, dass es mich stören würde aber ich möchte nicht, dass er mich so wahrnimmt.

Ich mag Lenn, wirklich. Aber nur als Freund, nicht mehr. Ich kann mir nicht vorstellen mit ihm alt zu werden und auch nicht eine Familie mit ihm zu grünen. Vielleicht, weil er zu geplant ist und zu perfekt. Er hat eine perfekte Familie, einen perfekten Beruf, ein perfektes Auto, perfekte Freunde und Geld. Ich pass nicht in diese Welt.

Da ich noch immer nicht will, dass Lenn Harry hier auf meinem Sofa sieht, gehe ich zur Haustüre nur um ihn in Jogginghosen und verknittertem Pullover dort stehen zu sehen. Das ist so gar nicht der Lenn, den ich kenne oder kennenlernen wollte. Unter seinen Augen zeichnen sich schwarze Ringe ab und auch seine Haare sehen aus als hätte er sie schon länger nicht mehr gewaschen.

„Megan.", ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus als ich vor ihm stehe. Gezwungen hebe ich meine Mundwinkel leicht an, bin noch immer geschockt von seinem Anblick. Nicht, weil er schlecht aussieht, einfach weil es so ungewohnt ist.

„Ich hab dich vermisst.", seine Worte kommen leicht lallend aus seinem Mund und reflexartig trete ich einen Schritt zurück.

„Ich will dich wieder, Megan. Ich liebe dich.", er steht jetzt noch näher vor mir und ich kann den Alkohol in seinem Atem riechen. Ich ignoriere die Worte, die er spricht.

„Du bist betrunken, du weißt nicht was du redest.", ich lege meine Hand auf seine Schulter und schiebe ihn leicht zurück um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.

„Doch Megan. Ich weiß, dass ich dich liebe.", wieder kommt er einen Schritt auf mich zu und bevor ich überhaupt irgendetwas tun kann, schlingt sich ein Arm von hinten um meine Hüfte und eine bekannte Stimme kommt mir zuvor. „Alles in Ordnung Baby? Wer ist das?".

Paranormal | H.S. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt