Ich weiß ✅

1.5K 156 17
                                    

Eine Weile war es ruhig. Das gleichmäßige Surren der einzelnen Maschine, erfüllt den Raum und hin und wieder kann man ein Auto vorbei fahren hören. Seit dem ich diesen Satz vorgelesen habe, hat sich Harrys Gesichtsausdruck nicht mehr verändert.

Er starrt angestrengt an die Wand und die Falte zwischen seinen Augenbrauen wird immer tiefer. Vorsichtig rutsche ich näher an ihn ran und lege meine Hand an sein Gesicht. Mit meinem Daumen fahre ich sanft über seine Stirn, was ihn dazu bringt, mich anzusehen.

„Ich mag es nicht, wenn du so angestrengt schaust.", flüstere ich, meine Hand noch immer an seiner Haut. Er schüttelt kurz seinen Kopf, so als würde er die Gedanken hinauswerfen wollen und sieht mich dann an. Ohne unseren Blickkontakt zu unterbrechen legt er seine Hand auf meine, die noch immer an seiner Wange liegt. Sanft umgreift er sie und lächelt mich dann an. Er rutscht etwas zur Seite und signalisiert mir, dass ich mich neben ihn setzen soll.

Unsere Füße berühren sich.

Unsere Oberschenkel berühren sich.

Unsere Hüften berühren sich.

Unsere Schultern berühren sich.

Nicht nur körperlich berühren wir uns, auch seelisch.

Wir berühren uns, indem ich für ihn da bin, bei ihm bin und ihm Gesellschaft leiste.

Indem, dass er mir vertraut und mir sein Notizbuch anvertraut. Das Buch, in dem alle steht was auf irgendeine Art und Weise sein Leben ist, liegt in meinen Händen und er vertraut mir, daraus zu lesen. Es fühlt sich komisch an, Dinge über sich selbst zu lesen. Dinge, die man selber gar nicht bemerkt und die auf den ersten Blick nicht relevant wirken. Doch denkt man darüber nach, merkt man erst wie wichtig sie doch sind.

Es sind diese Kleinigkeiten, die einen Ausmachen. Die einen Menschen zu dem machen, was er ist, was er sein will. Es sind diese Dinge, die Angewohnheiten die jeden von uns Individuell machen und uns voneinander unterscheiden. Seit dem letzten Mal, als ich es mir angesehen hatte, hat er noch einige andere, weitere Dinge reingeschrieben. Wie zum Beispiel

„Spielt mit ihrem Stift wenn sie nervös ist.", oder „lässt sich sehr leicht ablenken.", „bemerkt schnell wenn irgendetwas nicht stimmt.", und ein weiteres Bild von mir klebt auf einer Seite. Ich habe die Augen geschlossen und ich schlafe und hinter mir liegt Harry.

Mein Kopf liegt auf seinem Oberarm und mit der freien Hand hält er wohl das Handy. Es scheint der Tag gewesen zu sein, als er bei mir geschlafen hatte, weil er nicht alleine sein wollte. Ich fahre mit meinem Daumen über das Foto und lächle, spüre wie Harrys Arm sich um meine Schulter legt. Ich lehne meinen Kopf zurück und blättere weiter. Auf der nächsten Seite steht nur ein Satz.

Vier Worte.

„Wir haben uns geküsst."

Er hat es sich wirklich aufgeschrieben. Es steht groß auf der einzelnen Seite.

Immer nur ein Wort pro Zeile. Vier Wörter untereinander. Wir haben uns geküsst. Ja das haben wir und ich würde es immer wieder tun. Ich denke an den Moment zurück. Der Moment, den ich wahrscheinlich nie in meinem Leben je wieder vergessen werde. Ich kann noch genau spüren wie sein Atem über mein Gesicht wandert, wie nah er bei mir ist. Wie ich meine Augen schließe und von seinem Duft umhüllt werde. Der Duft, den man nicht beschreiben kann. Er riecht einfach nach Harry. Ich spüre wie seine Lippen über meine streichen, wie er sie leicht öffnet und durch seine Nase einatmet. Ich spüre, wie seine Hände über meine Arme streichen und sich schließlich mit meinen verschränken. Und als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich direkt in Harrys grüne, die mich mit einem Blick ansehen, der mich erschaudern lässt. Er ist nur ein paar Zentimeter von meinem Gesicht entfern und ich bewege mich nicht, als er mir näher kommt. Ich bewege mich auch nicht, als ich dann seine Lippen wirklich an meinen spüre. Wieder einmal schließe ich meine Augen und lasse mich fallen. Ich lasse mich fallen weil ich weiß, dass Harry mich auffangen wird. Unsere Lippen bewegen sich synchron miteinander. Verschmelzen ineinander. Werden eins.

„Ich erinnere mich.", flüstert er gegen meine Lippen als wir uns wieder voneinander lösen. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen.

„An unseren Kuss?", ich hoffe es so sehr, dass er sich daran erinnert. Dass er weiß was er dabei fühlte, was ich fühlte, was wir fühlten. Er zuckt leicht mit den Schultern.

„Ich erinnere mich an das Gefühl.", noch immer sind wir so nah beieinander, sein Atem prallt auf mich während er ausatmet und spricht.

„Es ist als würde ich zu Hause sein, dass ich mich sicher fühlen kann. Ich weiß nicht, du denkst wahrscheinlich ich bin komplett bescheuert aber es fühlt sich einfach so an.", seine Worte bescheren mir eine Gänsehaut und eine ungewohnte Wärme erfüllt meinen Körper.

„Das ist ganz und gar nicht bescheuert.", meine Stimme ist nur noch ein Hauchen, bevor ich meine Lippen wieder auf seine lege. Kurz ist er bewegungslos, küsst mich dann aber zurück. Er lehnt halb über mir als ich wieder bei Sinnen bin, abgestützt auf seinem Unterarm. Seine Locken fallen auf seine Schultern und über sein Gesicht. Ich hebe meine Hand und streiche sie zurück, lege seine wunderschönen grünen Augen frei und verliere mich augenblicklich in ihnen.

„Du bist so wunderschön.", ich habe das Bedürfnis, ihm zu sagen wie schön er für mich ist, wie viel er mir bedeutet und ich denke er braucht das. Er braucht jemand, der ihm sagt, dass er gut ist so wie er ist und dass er sich nicht verstecken muss und sich vor allem nicht selber hassen soll. Seine Wangen färben sich leicht rot und heben sich von seiner blassen Gesichtsfarbe ab.

Er lässt sich neben mich sinken und vergräbt sein Gesicht in den Kissen unter meinem Kopf. Ich drehe mich auf meine Seite um ihn anzusehen, was er allerding versucht zu verhindern. Ich lege meine Hand auf seine Brust und drücke ihn leicht zurück, sodass er dazu gezwungen ist, aufzusehen. Ich streiche über sein markantes Kinn auf dem kleine Bartstoppeln zu spüren sind und lächle vor mich hin. Ich lächle, einfach weil ich in diesem Moment glücklicher bin als ich seit Ewigkeiten war.

„Haben wir eine Beziehung?", frägt Harry dann und stellt damit die Frage, auf die ich keine Antwort weiß. Was sind wir? Freunde? Mehr als Freunde? Verliebte? Ich weiß es nicht. „Ich weiß es ist schwer mit mir. Ich bin eine Last aber oh Gott Megan all das was in meinem Buch steht, all diese Dinge über dich und der Kuss, die Küsse. Ich weiß nicht wie ich das alles sagen soll, es ist komisch weil ich dich einfach jeden verdammten Tag wieder kennenlerne und ich mir vorstellen kann, dass das nicht einfach für dich ist, für mich auch nicht aber ich mag dich so sehr, allein durch die Notizen über dich und ich fühle mich gemocht Megan. Das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich wirklich gemocht.", seine Augen werden glasig, ebenso wie meine. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Insgeheim ist das, das was ich will. Ich will mit ihm eine Beziehung führen, natürlich will ich das, aber er hat recht. Es ist schwierig. Wenn ich daran denke, neben ihm aufzuwachen und er nicht weiß er ich bin, bereitet mir Bauchschmerzen. Dass er nicht wissen wird was wir alles erlebt haben, lässt mein Herz aufschreien. Es ist nicht dasselbe wenn er alles liest aber nicht nachvollziehen kann was er in diesem vergangenen Moment gefühlt hat. Ich weiß nicht ob ich stark genug bin um ihn zu halten wenn er Halt braucht aber ich habe es ihm und mir selbst versprochen und deshalb lächle ich. Ich lächle und küsse ihn ein drittes Mal diesen Tag. Ich küsse ihn, weil ich weiß dass ich ihn mehr mag als nur einen Freund. Ich küsse ihn, weil ich nicht weiß wie ich anders sagen soll, dass ich nichts lieber tun würde als eine Beziehung mit ihm zu führen aber vor allem küsse ich ihn, weil ich es will.

„Ich werde dir nicht sagen können dass ich dich liebe, weil du wissen würdest, dass es nicht so gemeint ist.", flüstert er und wischt meine Tränen, die ich nicht bemerkt habe, von meinen Wangen.

„Ich weiß.", meine Stimme ist kaum hörbar, doch wir liegen so nah beieinander, dass Harry keine Schwierigkeiten dabei hat mich zu hören.

„Ich werde nicht wissen wer du bist, wenn ich aufwache.", redet er weiter und zählt damit einen weiteren Fakt auf, der mir bewusst ist.

„Ich weiß.", sage ich wieder und bin erstaunt, dass es nicht so sehr weh tut wie gedacht.

„Ich werde nie gut genug für dich sein, ich werde dir nicht all das geben können was du brauchst.", ein weitere Satz der mein Herz ein bisschen lauter schreien lässt und doch nicke ich.

„Ich weiß, aber wenn du bei mir bist ist das alles okay. Du bist alles was ich brauch."

Paranormal | H.S. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt