100 Sekunden - Fliegen

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Es ist früh morgens als wir losfahren und mit niemandem wäre ich an diesem Morgen oder an jedem anderen morgen lieber losgefahren als mit ihr.
Ich fahre die Einfahrt hinunter, während sie das Tor hinter dem Wagen schließt und auf dem Beifahrersitz Platz nimmt.
Wir fahren die lange Straße entlang und dann biege ich ab auf die kurvigen Wege, die uns durch die Stadt und hinaus aus der Stadt führen.
Es fühlt sich an, als würden wir die Schallmauer durchbrechen, voller Freiheit untermalt von der Musik aus dem Radio, welches sie gerade vorgebeugt lauter stellt.
Auf der Gegenfahrbahn taucht ein Auto auf.

1. Es schlittert merkwürdig und es dauert bis ich begreife, was geschieht. 2. 3. 4. 5. Ich reiße das Lenkrad um. 6. Auf dem anderen Auto ist etwas auf dem Dachgepäckträger angebracht. 7. 8. 9. Ich weiß nicht was es ist, aber es ist spitz und nicht richtig befestigt. 10. Es löst sich und fliegt auf uns zu. 11. Immer noch schlittert das Auto und ich erhasche einen kurzen Blick auf den Fahrer. 12. Ein Mann, dessen Alter ich nicht einschätzen kann mit einem blauen Hemd oder einer blauen Jacke. Schwer zu sagen. 13. 14. 15. Ich reiße das Lenkrad in die andere Richtung. 17. Sie schreit. 18. Ich reiße meinen Kopf um. 19. Sie sieht mich panisch an. 20. Das spitze Ding durchbricht die Windschutzscheibe. 21. Splitter fliegen, fliegen auf uns. 22. Aber meine Seite zerbricht nicht, das konnte ich abwenden. 23. Zum Glück, denke ich. 24. Nicht zum Glück. 25. Es berührt ihren Brustkorb, ihre Augen sind vor Schreck geweitet. 26. Was mit dem anderen Auto passiert, merke ich nicht, sehe ich nicht, interessiert mich nicht. 27. 28. 29. 30. Mitten durch ihr Herz, wie der Pfeil der meines traf als ich ihr zum ersten mal begegnete. 31. Blut spritzt. 32. Es spritzt an die Decke. 33. Es spritzt an ihr Fenster. 34. Es ist weitaus weniger Blut als ich es mir einbilde. 35. Ihre Augen sind glasig, werden glasig. Ich wünschte sie würden zu fallen. 36. In meinen Ohren dröhnt ihr Aufschrei, ihr Schmerzensschrei, ihre letzten Laute. 37. 38. Ich bemerke, dass ich es bin der noch immer schreit. 36. Mein Auto schlittert jetzt weiter. 39. 40. 41. 42. Meine Hände umfassen wieder das Lenkrad. 43. Ich drehe daran, reiße und drücke alle Pedale durch, als hätte ich nie gelernt damit umzugehen. 44. 45. Sie ist tot, oder? 46. Das andere Auto ist zum stehen gekommen. 47. Ich bin noch immer in Bewegung, wir sind noch immer in Bewegung. 48. 49. 50. Links. 51. Rechts. 52. Die Straße ist nass, das hatte ich vorher nicht bemerkt. 53. Der Himmel zieht sich mehr und mehr zu. 54. 55. Sie ist tot. 56. Wieso bin ich nicht tot? 57. Eine Scherbe steckt in meinem Arm. 58. In ihrem Arm stecken mindestens sieben Scherben. 59. Ich schreie immer noch, schreie einfach und schreie ihren Namen. 60. Verdammt, sie ist tot! Warum? 61. Weil ich in die falsche Richtung gelenkt habe, sonst würde sie vielleicht, nein, sehr wahrscheinlich noch am Leben sein und atmen. 62. Ihr Herz würde noch immer Blut pumpen und nicht durchbohrt sein. 63. Das andere Auto ist weiter weg. 64. 65. Eine Leitplanke, oder eher doch Leidplanke. 66. Die Motorhaube trifft auf diese. 67. Die Motorhaube wird zusammengedrückt, die Planke gibt nach. Stück für Stück bekommen Beide Dellen. Tiefe Dellen. 68. 69. Mein Auto muss schrottreif sein, genauso wie ich. Schrottreif, falls ich das überlebe, will ich nicht mehr leben. 70. Nicht ohne sie. 71. Ein Abhang und die Frage, wo ich überhaupt bin. 72. Ich bin am Leben, dabei sollte es doch eigentlich sie sein. Sie, die ein so viel besserer Mensch ist. Sie hätte mich gerettet und nicht gedankenlos sich selber, oder? 73. Bäume. Viele Bäume und immer mehr Blut. 74. 75. 76. 77. Mein Blut. 78. Mein Kopf blutet, das Auto ist kaputt. Geht immer mehr kaputt. 79. Wir haben uns überschlagen. Wir, obwohl es doch nur noch mich gibt. 80. Jetzt ist eine ganze Umdrehung vollbracht. 81. Und ich wünsche und denke und hoffe, dass es jetzt vorbei ist. 82. 83. Sirenen. 84. Aber wir, nein ich, befinde mich mit dem Auto oder dem was noch davon übrig ist auf einem Abhang. 85. Und es rutscht. Rutscht weiter runter. Ihr lebloser Körper wird noch immer nach vorn und nach hinten geschüttelt. 86. Meiner auch. 87. Nach vorn und nach hinten, nach links und nach rechts. Die ganze Zeit schon schlägt mein Kopf mit der Schädeldecke gegen irgendwelche Teile im Auto. Die Scheibe bietet keinen Schutz mehr, sie ist mittlerweile ganz verschwunden. 88. Wir rutschen tiefer, ich rutsche tiefer. Mein Herz rutscht tiefer. 89. 90. Ein Baum und ich hoffe, denke, schreie, dass es vorbei ist, aber das ist es nicht. 91. Die Reste des Auto überschlagen sich wieder und wir sitzen mit drin. 92. Sie fliegt, fliegt wie ein Engel, trotz Sicherheitsgurt. 93. Und ich fliege, gedanklich, denn ich fliege nicht. 94. Aber das Auto fliegt oder fällt oder knallt. 95. Ein Baum, schon wieder. Alles voller Bäume. 96. Das Auto zerschellt endgültig. 97. Ich sehe sie nicht mehr, nur noch ihr Blut, mein Blut, unser Blut ist hier. Und ich, ich bin auch noch hier. 98. Aber sie, sie ist weg, als hätte sie nie existiert, sie ist tot. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Ich fliege, fliege auf den Baum und mein Genick macht ein komisches Geräusch.

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