100 Sekunden - Eiszeit

26 8 2
                                    

Das Glitzern des Schnees überwältigt uns. Die Luft ist so kalt, so schneidend frostig, dass es mir schwer fällt zu atmen. „Ich habe die gesagt es ist schöner einen gefrorenen Berg zu erklimmen, als irgendwelche Klippen in Australien." höre ich sie zufrieden sagen. Ich nicke langsam. Wir haben dieses kleine Abenteuer seit Monaten geplant, es sollte alles perfekt sein, wenn wir diese eisigen Höhen erklimmen. Sie macht einen Schritt zur Seite, damit ich auch einen Blick auf diese atemberaubende Aussicht werfen kann. „Wir sollten uns langsam wieder an den Abstieg machen, es wird kalt." meine ich und weiß, dass ihr noch viel kälter ist als mir.

1. Irgendetwas knackt und besorgt drehe ich mich um. 2. Aber es passiert nichts. 3. Das schöne am Winter ist der glitzernde Schnee, hast du bei unserer ersten Begegnung gesagt als wir in der Kälte gestanden haben, weil dieser dämliche Laden noch nicht geöffnet hatte. 4. Ich hatte gesagt, dass das schönste am Winter der schmelzende Schnee ist, weil dann die Hässlichkeit der Welt wieder zum Vorschein kommt und all diese Idioten nicht länger mit verklärten Blicken durch die Gegend rennen. 5. Genauso einen verklärten Blick musste ich gerade drauf haben. 6. Sie dreht sich zu mir um. 7. „Es ist so schön." quietscht sie laut. 8. Es knackt wieder. 9. „Hast du das gehört?" frage ich sie und blicke mich wieder um. 10. „Was denn?" fragt sie. 11. Und kommt auf mich zu. 12. Der Schnee knarzt unter ihren schweren Schritten. 13. „Das." antworte ich als es wieder knackt. 14. Die untergehende Sonne scheint unnachgiebig auf uns herab. 15. Sie sieht mich verwirrt an. 16. Ich senke meinen Blick. 17. Zu Boden. 18. Und sehe einen Riss im Boden. 19. „Komm da sofort weg!" rufe ich laut. 20. Sie reagiert. 21. Aber nicht schnell genug. 22. Der kleine Riss breitet sich aus. 23. Und wird größer noch während sie auf mich zu läuft. 24. Dann stürzt sie hinab. 25. „Nein!" schreie ich. 26. Und mein Schrei löst etwas aus. 27. Noch mehr Schnee. 28. Und ich falle. 29. Falle mit ihr. 30. 31. 32. 33. 34. 35. Ich versuche meine Augen zu öffnen. 36. „Alles in Ordnung bei dir?" frage ich mit gedämpfter Stimme aus Angst nochmal das Lösen von Schnee zu erleben. 37. „Mein Bein, ich kann es nicht mehr bewegen." antwortet sie weinerlich. 38. Über uns ist Schnee und Eis, nur ein bisschen Sonne scheint hindurch. 39. „Wir haben Glück, dass der Schnee uns nicht komplett unter sich begraben hat." 40. Sie lacht verzweifelt auf: „Das nennst du Glück?" 41. Ich stehe auf und humpele zu ihr. 42. Meine Knochen tun weh. 43. „Kannst du aufstehen?" frage ich hoffnungsvoll, aber sie schüttelt nur mit dem Kopf. 44. Ich weiß, dass wir uns warm halten müssen. 45. Erst jetzt bemerke ich, dass ich meinen rechten Handschuh verloren habe und ihre Hose ist zerrissen. 46. „Ich will noch nicht sterben." jammert sie. 47. „Wir sterben hier doch nicht", erwidere ich und versuche entrüstet zu klingen, „Man wird nach uns suchen." 48. Dabei glaube ich selbst nicht daran. 49. „Mir ist jetzt schon kalt." murmelt sie, während ich sie in den Arm nehme. 50. Unsere Reserven sind alle oberhalb dieser Eisschicht. Wir haben keine Lebensmittel hier, kein Feuerzeug. Nichts was uns hätte warm halten können. 51. Wir sitzen einfach nur da. 52. Während unsere Finger immer kälter werden. 53. Der verklärte Gesichtsausdruck ist schon längst aus unseren Gesichtern verschwunden. 54. Meine Finger werden blau. 55. Und meine Zehen fühlen sich taub an. 56. „Du musst wach bleiben." ich rüttele an ihren Schultern. 57. „Ich weiß." gibt sie zur Antwort und öffnet kurz die Augen. 58. „Ich bin wach." stellt sie klar. 59. „Wir müssen versuchen die Kälte auszublenden." selbst meine Stimme ist schon zittrig. 60. Sie nickt nur. 61. 62. 63. 64. 65. Die letzten Strahlen der Sonne verschwinden. 66. Das helle Eis, der weiße Schnee, wird immer mehr zur bedrohlichen Dunkelheit. 67. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Beine nicht mehr bewegen kann. 68. Zugegeben der Tag war anstrengend. 69. Vielleicht ist schlafen doch eine gute Idee. 70. Dabei kann der Körper sicher Reserven sparen. 71. Es muss ja auch nicht lange sein. 72. Nur ganz kurz. 73. Um die Kälte zu vergessen. 74. Um den Schnee nicht mehr zu sehen. 75. „Wir kommen hier schon wieder raus." murmele ich in ihr Ohr. 76. „Erzähl mir von was warmen." bittet sie und öffnet kurz die Augen. 77. „Als ich auf diesen Berg in Australien geklettert bin, da war es heiß." erzähle ich ihr. 78. „Richtig heiß, aber ich musste trotzdem lange Sachen tragen." 79. „Und die Sonne hat auf uns geschienen, so gleißend hell wie vorhin." 80. „Sonne." seufzt sie verschlafen. 81. Ich zittere vor Kälte. 82. Ganze Sätze sind schwer. 83. „Heizung." 84. „Sommer." 85. „Wasserkocher." 86. „Noch wach?" will ich von ihr wissen. 87. Sie antwortet nicht. 88. Ich schließe meine Augen. 89. Würde ich das alles realisieren, würde ich weinen, so würden meine Tränen zu Eis gefrieren. 90. Ich rolle mich mehr zusammen. 91. Ziehe meine Beine an. 92. Wir werden nicht sterben. 93. Man wird uns finden! 94. Ihre Lippen sind ganz blau. 95. Meine Finger ganz rot. 96. Meine Augen sind müde. 97. „Ich liebe dich." flüstere ich. 98. Sie reagiert nicht. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, denke ich. 100. Nur ganz kurz schlafen, denke ich, während die Eisdecke über uns zusammenbricht.

100 SekundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt