Es ist Freitagabend, normalerweise würde ich in schäbigen Clubs noch schäbigere Frauen abschleppen, aber die Woche war hart und so freue ich mich auf nichts als auf die Couch und die Ruhe, die mich umgeben wird.
Stattdessen jedoch klingelt es, kaum dass die Stille in der Wohnung einkehrt.1. Ich seufze laut, nicht einmal kann ich meine Ruhe genießen. 2. 3. 4. Es dauert bis ich mich aufraffen kann. 5. 6. 7. 8. 9. Ich habe keinen Spion und auch keinen Summer, geschweige denn eine Gegensprechanlage. 11. Es ist wie immer eine Überraschung wer vor meiner Wohnungstüre steht. 12. Das Schloss klemmt für gewöhnlich, nicht anders ist es jetzt. 13. 14. Die Klingel schellt erneut. 15. Ich kann die Ungeduld durch das alte Holz hören. 16. Ich reiße nicht minder genervt die Tür auf. 17. Und starre die Frau, die mir gegenüber steht, an. 18. 19. Ich kann mich nicht erinnern, dieser Schönheit schon einmal begegnet zu sein. 19. Sie öffnet den Mund. 20. Um etwas zu sagen. 21. Und schließt ihn wieder. 22. Ohne etwas zu gesagt zu haben. 23. Stille kehrt ein, die durch ein gleichmäßiges Ticken unterbrochen wird. 24. „Kann ich Ihnen helfen?“ frage ich freundlich, darauf bedacht, nicht zu ruppig so ruppig zu klingen, wie ich mich fühle. 25. 26. „Ja.“ sagte sie. 27. 28.„Und womit kann ich Ihnen behilflich sein?“ hake ich nach. 29. „Kann ich vielleicht hereinkommen?“ bittet sie und wirft einen Blick auf ihre tickende Armbanduhr. 30. Zögernd nicke ich. 31. „Ich-“, beginnt sie stotternd, „Ich war vor einigen Monaten schon mal hier.“ 32. 33. Ich verstehe sie nicht. Das Ticken ist zu laut. 34. „Über Nacht.“ fügt sie scheinbar beschämt hinzu und senkt den Kopf. 35. 36. 37. 38. Ich führe sie in meine kleine Wohnung. 39. In das Wohnzimmer. 40. Und biete ihr an, sich doch zu setzen. 41. „Also...?“ frage ich und lasse den Satz unvollendet durch den Raum schweben. 42. Als die Frage sie erreicht hat, hebt sie den Kopf. 43. „Es tut mir leid.“ sind die Worte, die ihre Lippen formen. 44. 45. „Was?“ 46. 47. „Vor einigen Monaten“, wiederholt sie, „Über Nacht.“ 48. 49. Ich antworte nicht. 50. „Klingelt da nichts?“ seufzt sie verzweifelt. 51. Es klingelt nichts. 52. Es tickt nur. 53. Ich schüttele den Kopf, um zu verneinen, um das Ticken abzuschütteln. 54. 55. Ihre Hände verkrampfen sich. 56. Ihre Augen werden wässrig. 57. Ich verkrampfe meine Hände. 58. Wende meinen Blick zum Fenster. 59. Das Ticken hört nicht auf. 61. „Ich wollte es selber nicht wahrhaben.“ 62. Salziges Wasser tropft auf ihre Jeans. 62. 63. „Wieso sind Sie dann hier?“ frage ich kalt. 64. 65. „Weil es die Wahrheit ist.“ schluchzt sie. 66. Die Stille kehrt wieder ein, die übertönt wird von dem lauten Ticken. 67. 68. 69. Ihre Stimme hebt sich wieder. 70. Ich unterbreche sie: „Ich kann mich nicht erinnern.“ 71. Ich sage es zu ihr. 72. Ich sage es zu mir. 73. Sage es, damit es wahr wird. 74. Damit das Ticken aufhört. 75. 76. 77. 78. Aber das wird es nicht. 79. Das Ticken wird immer lauter. 80. Und das Ticken wird immer schneller. 81. Von Sekunde zu Sekunde schneller. 82. „Es tut mir leid!“ schluchzt sie wieder. 83. Unverständliche Worte. 84. Und das Ticken wird zu einer Explosion. 85. Zu dem Ticken, das mir zeigt, dass meine Freiheit abläuft. 86. 87. „Ich-“ weint sie. 88. 89. Sie wird unterbrochen von einem Schluchzen. 90. „Ich bin schwanger.“ 91. Stille. 92. Ich ticke aus. 93. Ich gehe hoch. 94. Ich explodiere. 95. Explodiere laut. 96. Mit einem Knall. 97. Und dann explodiert sie. 98. Explodiert schreiend. 99. „Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderes muss man leben.“ erinnere ich mich. 100. Die tickende Zeitbombe des Lebens hat eingeschlagen.

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100 Sekunden
NouvellesDen eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. - Auch wenn es nur einige wenige Sekunden sind die man mit dem Tod des Anderen leben muss. Für alle, denen 100 Sekunden reichen. -lvnrzz