100 Sekunden - Zyklon B

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Der Zug wird langsamer. Panisches Flüstern wird lauter und dröhnt in meinen Ohren wie das Summen von Bienen. Die Gleise quietschen und die Kinder schreien, unsere Waggontüre wird aufgerissen. Der Geruch von Urin, Schweiß und Angst vermischt sich mit der frischen Luft von draußen.

1. „Raus!" brüllt der Mann, der die Türe geöffnet hat. 2. „Männer rechts!", befiehlt er, „Frauen mit Kindern links!" 3. Alle gehorchen widerstandslos. 4. 5. Männer rechts. 6. Frauen und Kinder links. 7. Mein Blick huscht über die absurde Kulisse hinweg. 8. Menschen in uniformierten Anzügen, auf beiden Seiten. 9. Die einen kahlköpfig, die Anderen mit üppigem Haar. 10. Ich ordne mich mit langsamen Schritten ein. 11. Wir sind hier nicht grundlos. 12. Zumindest sehen sie das so. 13. Dabei könnte ich gar nicht sagen, was ich je Böse ist oder gar Rechtswidriges getan habe. 14. 15. Ich kann keinen Unterschied zwischen den Fronten erkennen. 16. Alle gleich. 17. Oder nicht? 18. Ein Mann im Arztkittel schaut jeden von uns kaum eine Milisekunde an. 19. Und zeigt dann in eine von zwei Richtungen.  20. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, weil wir alles still sind. 21. Die Angst lähmt unsere Münder, während unsere Füße nach vorn stolpern. 22. Ich muss mich nicht umdrehen um das Gefühl zu haben, dass mir eine Schusswaffe an den Kopf gehalten wird. 23. Obwohl wir so stumm sind, ist es hier unfassbar laut. 24. Aus der Ferne sehe ich Männer Steine schlagen. 25. Abgemagert. 26. Eingefallen. 27. Türen öffnen sich für uns. 28. Ein Mann rennt plötzlich los. 29. Panische Schreie ertönen. 30. Weit kommt er nicht, denn es wird auf ihn geschossen, von einem Mann in Uniform der hinter und her läuft. 31. Der Mann fällt der Länge nach hin und  niemand scheint es zu kümmern, niemand scheint es kümmern zu dürfen. 32. Türen schließen sich hinter uns. 33. Ein Mann brüllt: „Ihr werdet jetzt geduscht!" 34. Das Entkleidezimmer. 35. Riesig. 36. Wie alles hier. 37. Wir müssen uns unserer Kleidung entledigen. 38. Worüber ich nicht traurig bin, denn meine Klamotten stinken. Stinken nach Urin und Schweiß, vielleicht sogar nach Erbrochenem. 39. Den ältesten und den jüngsten muss geholfen werden. 40. 41. Wir alle nackt sind dauert es nicht lange. 42. So wie wir geboren sind stehen wir nebeneinander. 43. Weitere Anweisungen prasselt unaufhörlich auf uns ein. Wir sollen uns beeilen, weil das Wasser nicht lange warm bleibt. Wir sollen uns beeilen, weil die Suppe danach schnell kalt wird. 44. 45. Die Türen zu den Duschen öffnen sich 46. Langsam gehen wir rein. Einer nach dem Anderen. 47. Ich will den Schmutz loswerden. 48. Den Dreck. 49. Den Tod abschütteln. 50. Aber ich habe ein mulmiges Gefühl. 51. Die Gesichter, die uns hier hinein schicken sie nicht freundlich, glücklich aus. 52. Und ich sehe den gefallenen Mann noch immer vor mir. 53. 54. So viel Blut. 55. Die Türen schließen sich. 56. Ich hebe mein Kopf an, versucht die anderen Menschen auszublenden. 57. Und warte darauf, dass der heiße oder kalte weißer Strahl mich trifft und mich rein wäscht. 58. Von all der Scham und Schande meiner Religion. 59. Das Licht erschlicht plötzlich.  60. Ein Zischen ertönt. 61. Ich warte darauf, dass mich das Wasser trifft. 62. 63. 64. Es dauert bis ich merke, dass kein Wasser aus dem Duschkopf ankommt. 65. Husten. 66. „Was ist das?" hustet jemand. 67. Das ist kein Wasser. 68. Das ist Gas. 69. Verpestete Luft. 70. Ich schnappe nach Luft. 71. Vergeblich. 72. Die Erste fällt um. 73. Schreie. 74. Ich kann nicht schreien. 75. Schreien  bedeutet atmen und ich kann nicht mehr atmen. 76. Weinerliche Töne klingen an meine Ohren. 78. Wir trommeln gegen die Türen. 79. Aber ich weiß, das ist vergeblich ist. 80. Sind diese Türen erst einmal von den selben grausamen Menschenhänden geschlossen, die auch schon unsere Familien geholt und nie wieder zurückgebracht haben, bleiben sie verschlossen. 81. Die Schreie werden leise, weniger. 82. Aus der Decke strömt der Tod. 83. Und unterdrückt das Atmen. 84. Die Ersten sind bereits zu Boden gefallen. 85. Und Andere steigen auf sie. 86. Achtlos wer die Leichen sind. 87. Was zählt ist das Atmen. 88. Sie werfen sich gegen die Türe. 89. Ich sinke kraftlos zu Boden. 90. Wenigstens sauber wollte ich sterben. 91. Und nun würde ich stinkend mit all diesen Menschen zu Grunde gehen. 92. Ohne je einen Grund dafür genannt zu bekommen. 93. Meine Nase beginnt zu bluten. 94. Obwohl ich weiß, dass ich keine Luft bekomme, versuche ich zu atmen, aber davon brennt alles nur noch mehr. 95. Ich höre die Brechreize an den Türen. 96. Ich spüre wie ein Körper gegen mich fällt. 97. Es ist, als würde ich wegdämmern. 98. Ich schmecke das metallische Blut, das über meine Lippe läuft. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Mein Blut fließt über meinen erstickten Körper, während das Gift durch den Duschraum wabert.

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