100 Sekunden - Auschwitz 2.0

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Es ist heiß, stickig und eng. Die Metalltüre öffnet sich.

1. „Raus da!" 2. Ein Schlag auf den Allerwertesten und ich bewege mich mit der Masse. 3. Renne in das kleine Gehege. 4. Dicke Metallstäbe hindern mich am ausbrechen. 5. 6. Es stinkt. 7. Aber ich kenne den Geruch nicht genau. 8.  Es ist heiß hier drin.  9.  „Die Sammelbox ist voll!", schreit der Mann wieder, „Und der Transporter leer." 10. Es ist so eng hier, dass ich Platz Angst bekomme. 11. 12. Ich fange an zu schreien. 13. Ich will hier raus. 14. Ich sehe wie der Mann und die Frau, die uns immer gefüttert haben mit dem Mann in der Schürze unterhalten. 15. Aber ich höre ihre Worte nicht. 16. Sie lachen. 17. Während wir hier weinen, wenn wir doch nur weinen könnten. 18. Meine Brüder und Schwestern fangen auch an zu schreien. 19. Und die anderen auch. 20. Es ist ein ohrenbetäubendes Gequieke. 21. Und ich kann nicht mal erkennen wer alles schreit, um Hilfe schreit. 22. Der Mann und die Frau bekommen ein paar Geldscheine in die Hand gedrückt. 23. Und lächeln zufrieden. 24. 25. Ich will auch so glücklich lächeln. 26. Wir sind so viele. 27. Ich erkenne dass hinter unseren Gittern noch andere Gitterboxen liegen. 28. Einige davon sind leer. 29. 30. Wer da wohl drin war? 31. Was wohl mit denen passiert ist? 32. „Dann wollen wir mal anfangen!" höre ich den Mann mit der Schürze rufen. 33. Der Motor des Transporters jault auf. 34. Und entfernt sich.  35. Die Türe öffnet sich. 36. Das enge Gehege wird plötzlich leerer. 37. Und für einen kurzen Moment empfinde ich das Gefühl von Freiheit, weil ich etwas Platz habe. 38. Aber dann höre ich das laute Quieken. 39. „Halt die Fresse!" brüllt der Mann. 40. Ich zucke zusammen. 41. 42. 43. Es wird leiser. 44. Dann wieder lauter. 45. Ich kann in dieser Enge noch nicht mal meine eigene Kinder suchen. 46. Dabei würde ich sie so gerne beruhigen. 47. Und sie überzeugen, dass alles gut wird. 48. Aber ich habe ja selber Angst. 49. 50. Schritte. 51. Der Mann kommt zurück. Seine Schürze ist nicht länger grün. 52. Sie hat jetzt rote Punkte. 53. Und wen auch immer er mitgenommen hat, ist nicht an seiner Seite. 54. Das lässt mich hoffen. 55. Und ich kann die Hoffnung auch bei den anderen spüren. 56. 57. „Na, wen nehme ich als nächstes mit?" fragt der Mann sich selbst. 58. Sein Blick gleitet über uns. 59. Seine Augen lachen bestialisch. 60. Und irgendwie will ich nicht die Nächste sein. 61. Aber sein Blick bleibt auf mir liegen. 62. 63. 64. 65. Ich will laut aufschreien. 66. Aber da ist er schon wieder, der Schlag auf meine blanke Haut. 67. Vor Schreck renne ich los. 68. Direkt in das nächste Gitter hinein. 69. Hier ist es noch enger. 70. Ich werde festgehalten. 71. Wo kommen die ganzen Hände her? 72. Ich will mich wehren, aber es geht nicht. 73. Ich spüre wie kaltes Metall an meinen Kopf angesetzt wird. 74. „Zur Betäubung." höre ich den Mann nuscheln. 75. Schmerz durchströmt meinen Körper! 76. Es brennt. 77. Wie Feuer. 78. Aber es betäubt mich nicht. 79. Meine Muskeln verkrampfen sich. 80. Und ich zittere unwillkürlich. 81. Ich kann gar nichts dagegen tun. 82. Meine Augen flackern. 83. Aber ich sehe dieses spitze Ding. 84. Es kommt näher. 85. Wieder blankes, kaltes Metall. 86. Es zwickt im Hals. 87. Die Klinge gleitet durch mein Fleisch. 88. 89. Es tut weh. 90. Ich würde am liebsten schreien. 90. Ich spüre wie das Blut aus der Wunde tropft. 91. Ich kriege keine Luft mehr. 92. 93. Alles tut weh. 94. 95. Meine Augen fallen zu. 96. Der Schmerz betäubt mich. 97. Aber ich merke noch, wie ich kopfüber gepackt werde und in die Luft gehangen werde. 98. Das Blut tropft dabei immer noch aus meinem Hals. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, denke ich. 100. Ich bin Produktionseinheit #102473.

Pro Sekunde werden weltweit 4756 andere Tiere von Menschenhand getötet. Tendenz steigend.
Pro Jahr werden weltweit 150 000 andere Tiere von Menschenhand getötet. Tendenz steigend.
In Deutschland (fr)isst man schlaue Schweine, neugierige Hühner, friedliche Kühe, flinke Rehe, saugfähige Oktopusse, schillernde Fische und so viele andere Lebewesen. Tendenz steigend.
In anderen Teilen der Welt (fr)isst man schlaue Hunde, neugiere Katzen, friedliche Meerschweinchen, sensible Käfer, ruhige Schildkröten und so viele andere Lebewesen. Tendenz steigend.
Wir beuten Bienen aus und sperren Hummer in kleine Aquarien wo sie zusehen können wie ihre Geschwister auf dem Teller serviert werden. Tendenz steigend.
Wir alle lieben Tiere, warum nennen wir manche dann also Haustiere und andere Abendessen? Denn es ist nicht wichtig, ob andere Tiere genauso denken wie wir, aber dass sie genauso Schmerzen empfinden wie wir. Grausame Fleischindustrie lässt den Regenwald schwinden, die Treibhausgase in die Höhe steigen, das Wasser verrinnen und das tote Tier landet am Ende ja doch nur achtlos in der Biotonne. Und mit welchem Recht machen wir das? Genau, mit gar keinem Recht. Denn was die meisten Menschen leider immer wieder vergessen ist, dass auch wir Tiere sind.

Auschwitz fängt da an, wo einer im Schlachthof steht und sagt, es sind ja nur Tiere. -Adorno, Theodor W. (1903-1969)

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