Frederike hat mich angerufen. Sie sagt es stürmt gewaltig. Sie sagt, die Bahn fällt aus. Ich bin aufgestanden und habe aus dem Fenster geschaut. Frederike hat Recht, es stürmt gewaltig. So kann ich meine kleine Schwester nicht alleine lassen, also habe ich sie abgeholt. Zu Fuß.
1. „Hast du heute keine Uni?" will sie wissen. 2. „Nein!" schreie ich gegen den Wind an. 3. Natürlich ist das gelogen. 4. Seit unsere Eltern tot sind, würde ich abee alles für sie geben, für sie tun. 5. Frederike ist doch erst elf Jahre alt. 6. Muss sie festhalten, beschützen. 7. So wie jetzt. 8. Halte sie an der Hand fest. 9. Ihre Mütze ist verrutscht. 10. Ziehe sie zurecht. 11. Lasse sie dabei los. 12. Muss ich schließlich. 13. Sie stolpert. 14. Weil der Wind so stark ist. 15. Aber ich fange sie auf. 16. Frederike lacht. 17. 18. Sie ist eine gute Schwester. 19. Obwohl ich früher so ein Idiot war. 20. Jetzt braucht sie mich. 21. 22. 23. Mehr denn je. 24. Sie zieht ihren Anorak enger um ihren Körper. 25. Die Bäume biegen und wiegen und brechen sich. 26. Gegenseitig. 27. Weil sie so dicht beieinander stehen. 28. 29. „Komm weiter!" 30. „Komm schneller!" 31. Der Sturm ist schrecklich. 32. Schrecklich kalt. 33. Schrecklich laut, der Wind peitscht laut um meine Ohren. 34. Und schrecklich gefährlich. 35. Denke ich. 36. „Wir haben doch zwei Schutzengel." lächelt sie und deutet gen Himmel. 37. 38. 39. 40. Knackendes Geäst. 41. Straßenseitenwechsel. 42. Knackt immer noch. 43. Knackt lauter. 44. Zucke zusammen. 45. Trotzdem Stärke zeigen. 46. Niemals Schwäche. 47. Niemand ist mehr draußen, nur noch wir. 48. 49. Sind nicht mehr weit von Zuhause entfernt. 50. Ein Ast bricht. 51. Bricht leise. 52. Bricht laut. 53. Ich weiß es nicht mit Sicherheit. 54. Aber was ich weiß ist, dass der Ast fällt. 55. Nach unten fällt. 56. In rasneder Geschwindigkeit oder doch in Zeitlupe? 57. Und verfehlt sein Ziel. 58. Uns. 59. Packe sie fester und renne los. 60. Fuß vor Fuß. 61. Damit wir ins sichere Haus kommen. 62. Da vorne! 63. Ist es schon! 64. Puls geht immer höher. 65. Von uns Beiden. 66. Und dann ein Knall. 67. Einfach so. 68. Baum fällt. 69. Ihr Schrei ist Schmerz in meinen Ohren. 70. Nur ein kleiner junger, blätterloser Baum. 71. Aber ihre Beine stecken darunter fest. 72. Wimmern, schreien, Tränen. 73. Was soll ich tun? 74. Brülle um Hilfe. 75. Aber die Straßen sind menschenleer und die Häuser seelenlos. 76. Ich weiß doch gar nicht was man in so einer Situation machen muss! 77. „Alles wird gut." will ich sie selber, mich selber, einfach uns Beide beruhigen. 78. Muss mich beeilen, denn die umliegenden Bäume sind nicht stabiler. 79. 80. Ich denke. Und denke. Denke nach. 81. Notruf!, fällt mir ein. 82. Und ich renne los. 83. Zum Haus. 84. Zum Telefon. 85. 86. 87. Schaue zurück. 88. Und sehe sie nicht mehr. 89. Weil die Bäume Frederike unter sich begraben. 90. Begraben und ihr die Kraft rauben, bis sie sich nicht mehr wehren kann, nicht mehr schreien kann. 91. Nein! 92.93. Nein! 94. Meine Beine tragen mich zurück. 95. Und da liegt sie. 96. Irgendo unter den Ästen. 97. Warum? 98. Wieso sie und nicht ich, der nicht schnell genug reagiert hat? 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit demTod eines anderen muss man leben, erinnereich mich. 100. Der nächste fallende Baum vereint mich wieder mit meiner Familie.
In Gedenken an die Opfer des Sturms Frederike im Januar 2018.

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100 Sekunden
Short StoryDen eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. - Auch wenn es nur einige wenige Sekunden sind die man mit dem Tod des Anderen leben muss. Für alle, denen 100 Sekunden reichen. -lvnrzz