Die Straße fliegt an mir vorüber. Mein Blick ist starr aus dem Fenster gerichtet; Bäume, Sträucher und doppelt, wenn nicht sogar dreifach so viel Asphalt. Der Bus wird langsamer, hält an markierter Stelle und entlässt ein paar Fahrgäste, die an meinem Fenster vorbei laufen. Ein paar andere steigen hinzu. Eine schwer bepackte Frau lässt sich direkt neben mir nieder.
1. Ihre Tasche hievt sie mit viel Mühe auf ihren Schoß. 2. Sie ächzt. 3. Und stöhnt. 4. Vor Anstrengung. 5. Ich wende kurz meinen Kopf zu ihr. 6. Die Augenfallen mir als erstes an ihr auf. 7. Ozeanblau. 8. Der Rest von ihr ist füllig, genauso füllig wie ihre Taschen. 9. Kurz lasse ich meinen Blick durch den Bus gleiten. 10. Ein grauhaariger Mann mit Rollator. 11. Ein Junge mit Teletubbies-Rucksack, die Hände trotzig in die Jackentaschen gesteckt. 12. Er wird von seinen Eltern flankiert, sodass er nicht umfallen kann. 13. Dabei würde er sicher allein aus Trotz am liebsten umfallen. 14. 15. Das alte Ehepaar sieht genauso desinteressiert aus dem Fenster wie ich wenige Sekunden zuvor. 16. Ich sehne mich nach meinem Bett. 17. Nur noch wenige Haltestellen. 18. Dann noch eine kurze Strecke zu Fuß zurücklegen und schon kann ich meine Wohnungstüre aufschließen. 19. 20. Ich schließe meine Augen. 21. Höre den Motor rauschen. 22. Den Bus in einem eintönigem Tempo weiter tuckern. 23. 24. 25. Abbiegen. 26. Anhalten. 27. Weiterfahren. 28. Dann plötzlich ein Geräusch. 29. Laut.30. Schrill. 31. Ich reiße meine Augen auf. 32. Quietschende Reifen. 33. Vom Bus. 34. Leute purzeln nach vorne. 35. 36. 37. Und Einkäufe gleich mit. 38. Meine Sitznachbarin umklammert die Jutebeutel mit aller Kraft die sie aufbringen kann. 39. „Sorry!" brüllt der Busfahrer. 40. Er entschuldigt sich nur weil sich ein paar Fahrgäste beschweren. 41. Dann will er weiterfahren, die Route fortsetzen und vielleicht selber bald Feierabend machen. 42. Aber der Bus bewegt sich nicht voran, nur surrende Geräusche des Motors ertönen, die so klingen als würde man ihn abwürgen. 43. Wieder und wieder. 44. Unmöglich!, schießt es mir durch den Kopf. 45. Ich will endlich Nachhause. 46. Der Tag war lang genug. 47. Stille. 48. 49. 50. Dann lautstarkes Beschweren über das Busunternehmen, den Busfahrer und ach, überhaupt über die ganze unfaire Welt. 51. Und ehe ich begreifen kann warum, schreit jemand hinter mir. 52. „Feuer!" 53. Kopf herum schnellen lassen. 54. Derhintere Teil des Busses qualmt. 55. Ach was! 56. Qualmt nicht, steht lichterloh in rot gelben, züngelnden Flammen. 57. Ein Mann im Zweiersitz neben der bepackten Dame und mir springt auf. 58. Reagiert. 59. Blitzschnell greift er nach dem Nothammer. 60. Reißt das Teil aus der dafür vorgesehenen Halterung. 61. Und schlägt die gekennzeichneten Scheiben ein. 62. Frische Luft dringt in das stickige Innere des Busses. 63. Der Busfahrer löst sich aus seiner fassungslosen Starre und verlässt seinen Platz. 64. „Alle sofort raus hier!" brüllt er. 65. Ohne Rücksicht auf Verluste packt er den alten Mann mit dem Rollator und hilft ihm nach draußen zu springen. 66. Regungslos bleibt dieser vor dem Bus stehen. 67. Der kleine Junge und seine Eltern folgen. 68. Ich will aufstehen. 69. Aber die Frau neben mir ist erstarrt. 70. Sie keucht. 71. Es klingt merkwürdig, nicht panisch, eher kränklich. 72. Packt sich an die Stelle an der unter der Haut das Herz schlagen sollte. 73. Und kippt zur Seite. 74. Die Jutebeutel fallen zu Boden, der Inhalt rollt heraus. 75. Sie folgt. 76. Mit einem dumpfen Knall schlägt sie auf. 77. „Wir müssen sie hier raus schaffen!" schreie ich panisch. 78. „Sie hat einen Infarkt!" stellt einer der Männer die auf uns zu kommen fest. 79. Drei Männer packen sie. 80. Der Rauch macht mir das Atmen schwer. 81. Die Männer springen mit ihr aus dem eingeschlagenen Fenster. 82. „Aber sie ist ohnehin tot." sagt irgendjemand tonlos. 83. Kälte umfängt mich als ich nach draußen springe. 84. Kühle Abendluft. 85. Und ich laufe los. 86. Bin die einzige die sich sofort entfernt. 87. Dann ein ohrenbetäubender Knall. 88. Meine Ohren piepen und ich drehe mich um. 89. Die drei Männer sind fort und meine Sitznachbarin auch, genauso wie der Junge mit seinen Eltern oder der alte Mann, auch der Busfahrer ist fort. 90. Überall Flammen. 91. Ich suche die Person die so laut schreit, dass es noch das Piepen in meinen Ohren übertönt. 92. Aber da ist niemand mehr. Niemand mehr außer mir. 93. Ich muss feststellen, dass ich die jenige bin die so laut schreit. 94. Und heult, heult vor lauterAngst und Verzweiflung allein mitten auf einer Landstraße vor den brennenden Flammen die getötet haben. 94. Da! 95. Lichter! 96. Jemand der anhalten wird, jemand der den Notruf wählen wird. 97. Ich renne wie von selbst auf den Wagen zu und wedele mit den Armen. 98. Das Fahrzeug tritt abrupt auf die Bremse als es um die Kurve schnellt. 99. Den eigenenTod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Das Metall der Motorhaube trifft auf meinen Körper auf und ich sehe wie sich in den Augen des Fahrers die Flammen spiegeln.
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100 Sekunden
Short StoryDen eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. - Auch wenn es nur einige wenige Sekunden sind die man mit dem Tod des Anderen leben muss. Für alle, denen 100 Sekunden reichen. -lvnrzz