100 Sekunden - Spiegelbild

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Wir kennen uns schon lange. Wir sind ein gutes Team, sie und ich. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass sie so oft traurig aussieht und weint. So wie jetzt.

1. Die Tränen laufen ihr über die Wangen und Tropfen ungehört auf den Boden. 2. „Nicht." flüstere ich. 3. Sie schüttelt mit dem Kopf. 4. 5. Unfähig zu sprechen. 6. Unfähig ein Wort zu sagen. 7. „Nicht weinen." sage ich unbeholfen. 8. Aber sie kann sich nicht mehr zusammenreißen. 9. 10. Und die Tränen fließen. 11. So schnell und unbeholfen wie ein Wasserfall. 12. Ich fühle mich so hilflos. 13. 14. 15. 16. 17. Ich kann nichts tun, um ihr zu helfen. 18. Kann ihren Schmerz nicht lindern. 19. 20. „Weißt du", murmele ich, „Eigentlich geht es uns doch ganz gut." 21. Sie hebt ihren Kopf. 22. Schaut mir in die Augen. 23. Unverständnis breitet sich auf ihrem blassen Gesicht aus. 24. Sie glaubt mir nicht. 30. Kein Wunder. 31. 32. Ich glaube mir ja selbst nicht richtig. 33. Dennoch spreche ich weiter. 34. „Wir haben ein Dach über den Kopf." 35. „Wir haben genug zu essen." 36. „Unsere Eltern lieben uns." 37. „Wir bekommen eine ordentliche Schuldbildung." 38. 39. „Aber das reicht uns nicht, oder?" bringe ich fragend hervor. 40. Natürlich tut es das nicht. 41. 42. Ich sehe die Antwort in ihren müden Augen. 43. 44. In ihren leeren Augen. 45. „Vielleicht solltest du dir mal frei nehmen?" schlage ich vor. 46. Das würde uns Beiden gut tun, ergänze ich gedanklich. 47. Und über alles reden. 48. 49. 50. Sie versucht zu lächeln. 51. Aber es wirkt wie eine närrische Fratze. 52. 53. Sie hat das Lächeln verlernt. 54. Und weiß nicht mehr wer sie ist. 55. „Wenn ich dich so traurig sehe, fallen mir all die Gründe ein, wegen denen du so traurig bist, ich so traurig bin." gestehe ich ihr. 56. 57. Gestehe ich mir. 58. 59. 60. Sie versucht etwas zu sagen, aber sie schafft es nicht. 61. Stumm formt sie die Worte des Bedauerns. 62. Es tut ihr leid? 63. „Nein." 64. „Mir tut es leid, dass ich dir nicht helfen kann." 65. 66. 67. Sie schüttelt abermals mit dem Kopf. 68. 69. Aber ich nicke. 70. „Du bist stärker als ich." 71. 72. „Du weinst, lässt Gefühle raus." 73. 74. „Ich lächele immer nur." 75. Ihre Augen füllen sich abermals mit Tränen. 76. Tränen der Verzweiflung. 77. 78. Ich will die Tränen fortwischen. 79. Ich will, dass sie wieder lacht. 80. 81. Aber als meine Hand auf ihre Haut trifft, ist sie ganz kalt. 82. 83. Ich kann ihre Tränen nicht trocknen. 84. 85. Meine Finger pressen sich gegen die Kälte. 86. Die Kälte, die uns wie eine Scheibe trennt. 87. Bis ich bemerke, dass uns nichts trennt. 88. Bis ich bemerke, dass meine Augen feucht sind. 89. 90. Das wir eins sind. 91. Ich schreie. 92. Der Spiegel zerbricht. 93. Sie stirbt. 94. Die Scherben bohren sich in meine Haut. 95. Sie ist ich. 96. Ich bin sie. 97. Sie war mein Spiegelbild. 98. Ich kann nicht mehr. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Mein Spiegelbild liegt zerbrochen und blutig am Boden.

100 SekundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt