100 Sekunden - Stillstand
Ich sehe dich lachen, rennen und spielen. Du hast immer freudig gequietscht und warst immer ein Sonnenschein, unser Sonnenschein, mein Sonnenschein.
Ich habe Angst, aber ich weiß, dass du keine Angst hast. Ich weiß nicht, ob mich das beruhigen soll oder verängstigen.
Es fühlt sich an, als würde ich hier bereits Jahre sitzen. Vielleicht tue ich das auch. Mir läuft eine Träne über die Wange, dabei will ich doch stark sein. Der Arzt hatte anfangs gesagt, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben sollen, jetzt jedoch sagt er, dass wir einfach warten sollen. Die Diagnose traf mich wie ein Schlag ins Gesicht, schlimmer noch und du hast all diese Behandlungen, die Nadeln und die Medikamente mit einem Lächeln hingenommen, immer gedacht, du würdest überleben. Ich drücke deine Hand, deine junge Hand, gerade mal zehn Jahre alt.1. Du lächelst mich müde an. 2. 3. „Schatz, es ist okay." flüstere ich. Meine Stimme klingt blechern. 4. 5. Sie nickt, es fällt ihr schwer zu sprechen. 6. Ich streiche ihr durch ihr platt anliegendes Haar, ihre Haut ist blass, sodass die blauen Adern wie blaues Blut schimmern. 7. „Mama?" bringt sie hervor. 8. Sofort reiße ich meine Augen auf: „Ja?" 9. Sie versucht ihre Lippen zu bewegen, aber ist zu schwach, atmet schwer ein und schwer wieder aus. 10. 11. „Versprichst du mir etwas?" 12. „Natürlich, mein Liebling!" 13. 14. Ich würde ihr alles versprechen, ihr alles geben was sie wollte. 15. Ich wollte sie doch nur glücklich sehen. 16. 17. 18. 19. Die Sekunden vergehen und sie starrt mich einfach nur an. 20. „Kannst du Papa sagen, dass es mir leid tut, dass ich niemals einen anständigen Mann heiraten werde?" in ihrer Stimme schwingt eine ernste Besorgnis mit. 21. Mir rollt eine weitere Träne über mein Gesicht. Mein Mann ist schon seit zwei Jahren tot. 22. Sie ist alles was ich noch habe. 23. 24. Mit belegter Stimme antworte ich ihr: „Das kannst du Papa bald selber sagen. Er wird dich verstehen können!" 25. 26. Sie hebt ihren Kopf leicht an. 27. Sie lässt ihn wieder sinken, es ist der Versuch eines Nickens gewesen. 28. Der Schlauch in ihrer Nase verrutscht ein wenig. 29. Ich rücke ihn wieder zurecht. 30. 31. Meine Hände zittern und mir ist schlecht. 32. 33. 34. „Das war noch nicht alles." bringt sie hervor. 35. Ich streiche ihr sanft über die kleinen Hände. Niemals würde ein Ring an ihre Finger gesteckt werden. 36. 37. 38. Sie braucht Zeit um ihre Gedanken zu koordinieren und ihren Gedanken eine Stimme zu verleihen. 39. 40. 41. „Versprich mir, Mama", angestrengt holt sie Luft, „dass du wieder lachen wirst." 42. 43. 44. Was soll ich antworten? 45. Es ist so unfair! 46. Ich würde alles geben, damit ich an ihrer Stelle wäre und diese Schmerzen hätte. Wirklich alles! 47. Ich ringe mich dazu durch ihr zu sagen: „Ich werde es versuchen, mein Liebling." 48. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. 49. 50. Und ich lächele sie an, weil ich weiß, dass sie es liebt wenn sie andere Menschen zum lächeln bringen kann. 51. Konnte. 52. Nie wieder können wird. 53. Sie schließt beruhigt ihre Augen. 54. Ich weiß, all das ist furchtbar anstrengend für sie. 55. 56. Ich streiche ihr einfach über ihr Haar und halte ihre Hand. Das ist alles was ich noch tun kann. 57. 58. 59. 60. 61. 62. Die Uhr tickt leise. 63. 64. 65. Ich habe lange um sie gekämpft, aber es hat nichts gebracht. 66. 67. 68. Es ist vorbei. 69. Der Monitor piept. 70. Stillstand. 71. 72. Ihr behandelnder Arzt kommt herein. 73. Er notiert etwas. 74. 75. 76. Ich halte noch immer ihre Hand und streichele ihren Kopf. 77. Ich kann nicht loslassen. 78. Er redet mit mir. 79. Er erklärt mir alles noch einmal ganz genau und hat sogar tröstende Worte für mich übrig. 80. Es tut ihm aufrichtig leid, aber ich lasse es nicht an mich heran. 81. Mein Baby ist tot. 82. „Vielen Dank, danke für alles. bedanke ich mich beim Doktor. 83. Er hat sein Bestes getan, aber es war einfach nicht genug. 84. 85. Ich teile ihm langsam mit, dass ich noch gerne ein paar Minuten mit ihr hätte, um richtig Abschied zu nehmen. 86. 87. 88. Verständnisvoll verlässt er den Raum. 89. Ich greife auf ihren Nachttisch. 90. Auf der Packung steht, eine Warnung, die ich gekonnt ignoriere. 91. Ich nehme alle übrigen Medikamente heraus und spiele damit in meinen Händen. 92. 93. Ich lasse die erste Tablette in meinen Mund fallen. 94. Und die zweite. 95. Und dann alle zusammen. 96. Ich beginne zu lächeln. Ich bin wirklich glücklich, bald sind wir wieder vereint, vereint als Familie, so wie es sein sollte. 97. Mein Herz beginnt zu rasen, es flattert, als würde es davon fliegen wollen, hoch in die Wolken zu meinen Liebsten. 98. Ich lege mich vorsichtig neben den leblosen Körper meines Kindes und warte. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Ich schließe meine Augen und alles wird still.

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100 Sekunden
Historia CortaDen eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. - Auch wenn es nur einige wenige Sekunden sind die man mit dem Tod des Anderen leben muss. Für alle, denen 100 Sekunden reichen. -lvnrzz