100 Sekunden - Schuld

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Die Stadt ist voll. Überall sind Menschen, die die letzten Einkäufe erledigen wollen, bevor die Festlichkeiten beginnen, wie jedes Jahr um diese Zeit. Ich bleibe stehen und sehe mir gedankenverloren ein ein Schaufenster an.

1. Irgendwo hinter mir ertönt plötzlich ein Schrei. 2. 3. Ich verdrehe die Augen. 4. Sicher schon wieder eine Mutter, die ihr Kind nicht unter Kontrolle hat. 5. Ich bin nicht besorgt. 6. Wieso sollte ich auch? Hinter mir laufen lauter Menschen entlang, ich kann ihre Spiegelung leicht im Schaufenster wahrnehmen. 7. Noch ein Schrei. 8. 9. Hört das denn niemals auf? 10. Genervt rolle ich mit den Augen. 11. Im Schaufenster spiegelt sich ein absurder Anblick. 12. 13. Das Mädchen schlägt auf einen Jungen ein, der vielleicht nur ein bisschen älter ist. 14. Bestimmt nur ein dummer Streit. 15. Für so etwas sind die Eltern zuständig oder noch besser, das Sozialamt. 16. Die Auslage ist wirklich schön dekoriert, nur bei diesem Lärm kann ich mich nicht weiter konzentrieren. 17. Ich drehe mich um. 18. Der Junge blutet aus der Nase und liegt am Boden. 19. Das sieht nicht wie eine gewöhnlicher Streit aus. 20. Vor mir flüstert ein Pärchen miteinander: „Immer diese Asozialen." 21. 22. 23. Kopfschüttelnd gehen sie weiter. 24. 25. Unmöglich wie sich die Kinder heutzutage aufführen. 26. Ein paar Schaulustige werfen ihnen abschätzige Blicke zu. 27. Sie könnten ja wenigstens mal helfen. 28. Meine Wut auf unsere Mitmenschen steigt. 29. 30. 31. Sie schlägt immer weiter zu. 32. Fester. 33. Auf die Nase, die ohnehin schon blutet. 34. Auf das Auge, was ohnehin schon blau ist. 35. Auf den Mund, dem sicher schon Zähne fehlen. 36. Auf die Gliedmaßen, die sicher schon gebrochen sind. 37. 38. 39. 40. Irgendjemand muss eingreifen! 41. Aber ich bin doch selbst zu schwach. 42. Ich drehe meinen Kopf. 43. Hier zu bleiben bringt sicher nichts, schließlich kann ich nichts tun. 44. 45. Meine Füße setzen sich in Bewegung.46. Einfach nur schnell weg, bevor mir auch noch etwas passiert. 47. Ich betrete das nächstbeste Geschäft. 58. 59. 60. 61. Ich sehe mich um. 62. Hier gibt es fast nichts zu sehen. 63. 64. Meine Gedanken schwirren um den Jungen der auf dem Boden lag. 65. Und um mich. 66. Und um all die Menschen die vorbeigegangen sind. 67. Wie ich vorbei gegangen bin. 68. 69. 70. Sirenen. 71. Oder bilde ich mir das nur ein? 72. Ich bin erleichtert. 73. Die Polizei wird klären was passiert ist. 74. Die Sanitäter werden dem Jungen helfen. 75. Die Sirenen kommen näher. 76. 77. Ganz sicher ist das Spektakel jetzt vorbei. 78. Ich hätte nicht helfen können. 79. Meine Füße setzen sich langsam in Bewegung. 80. 81. 82. Ich gehe auf den Ausgang des Geschäfts zu. 83. 84. Die Türe öffnet sich und ich trete wieder hinaus ins Freie. 85. Mein Blick auf die Szenerie vor mir gerichtet. 86. Zwei Männer halten das Mädchen fest. 87. Sie schreit und brüllt. 88. Eine Frau fühlt den Puls des Jungen. 89. Ihr Gesichtsausdruck verdunkelt sich. 90. „Wir kamen zu spät!" erklärt die Passantin traurig. 91. Ihre Stimme ist brüchig und vorwurfsvoll gedenkt sie den ignoranten Passanten. 92. „Was glotzt'n so blöde?" schreit das Mädchen plötzlich in meine Richtung. 93. Sie reißt sich los und stürmt nach vorne, stürmt auf mich zu. 94. In ihrer Hand blitzt ein Messer auf. 95. Ihr wilder Blick ist starr auf mich gerichtet. „Hier gibt's nichts zu glotzen!" brüllt sie. 96. Die Messerspitze trifft auf meinen Brustkorb. 97. Bohrt sich in mich hinein. 98. Eine späte Erkenntnis, ich hätte helfen sollen. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Ich bin ein Feigling.



Bitte, seid nicht so wie in der Geschichte! Bitte beweist Zivilcourage! Gestern erst ist mir wieder klar geworden wie wichtig das ist, niemand hat eingegriffen, nur ich als kleines 18 - jähriges Mädchen. Es ist egal ob ihr denkt nichts ausrichten zu können, es geht immer irgendwie!

Für alle Opfer und deren Familien, bei deren Tod die Zivilcourage versagt hat.

100 SekundenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt