100 Sekunden - Himmel

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Mama starrt mich wütend an. „Du kannst den Juden nicht einfach helfen!" Ich stampfe mit den Füßen auf den Boden: „Kann ich wohl!" Sie seufzt langsam. Die Strenge in ihrer Stimme jedoch bleibt: „Können aber nicht dürfen!" Ich verstehe das nicht. Das sind doch auch nur Menschen wie wir. Sie müssen nur diesen Stern tragen. Mama kniet sich vor mich und zieht mich in ihre Umarmung. Liebevoll streicht sie mir über den Rücken: „Ich will nur nicht, dass dir etwas passiert." Ich löse mich von ihr und strahle sie selbstsicher an: „Aber Mama mir passiert schon nichts, ich bin doch Deutscher!"

1. Es klopft. 2. Mama schreckt auf. 3. Und murmelt: „Wer ist das denn jetzt?" 4. Sie steht auf und streicht mir noch einmal über den Kopf. 5. Ihre Schritte entfernen sich. 6. 7. 8. Die Türe geht auf, ich höre es am Knarren vom alten Holz. 9. Ich soll nicht immer so neugierig sein, sagt Papa. 10. Deshalb warte ich brav. 11. Und lausche den Stimmen. 12. Männerstimmen. 13. Ich werde ganz hibbelig während ich warte. 14. 15. „Nein!" höre ich die entschiedene Stimme von meiner Mama. 16. „Nein!" 17. Bilde ich mir das ein oder klingt sie verzweifelt? 18. 19. 20. „Er ist doch noch ein Kind!" 21. Ich bin kein Kind! 22. Ich bin doch schon groß, hat Papa zu mir gesagt! 23. „Er braucht mich!" höre ich Mama rufen. 24. 25. Schritte. 26. Mamas Schritte klingen langsam. 27. „Jetzt gehen Sie schon aus dem Weg!" höre ich eine raue Männerstimme sprechen. 28. Zwei Männer kmmen ins Zimmer. 29. Mama hinter ihnen. 30. Drückt sich an ihnen vorbei. 31. Läuft auf mich zu. 32. Hockt sich hin. 33. Umschließt mich von der Seite. 34. So fest, als würde sie mich nie mehr loslassen wollen. 35. „Ihr bekommt ihn nicht!" 36. „Er ist mein Sohn!" 37. 38. „Wir bringen ihn in ein gutes Heim." 39. „Nur über meine Leiche!" zischt Mama. 40. Habe sie noch nie so böse erlebt. 41. Ich habe Angst. 42. Wer sind diese Männer auf die Mama böse ist? 43. „Liebend gern." erwidert einer von ihnen lachend. 44. „Eine Judenliebhaberin mehr oder weniger." 45. Die Männer lachen. 46. Bösartig. 47. Dann verfinsteren sich ihre beider Mienen wieder. 48. „Lassen Sie das Kind los." 49. Aber Mama drückt mich nur fester an mich. 50. Einer der Männer packt. 51. Reißt sie zur Seite. 52. Ich schreie auf: „Mama!" 53. 54. 55. Ich werde gepackt. 56. Will mich wehren. 57. Schlage um mich. 58. Der andere Mann hält Mama fest. 59. „Im Konzentrationslager wird man die deine Flausen austreiben!" faucht der Mann. 60. Weil Mama ihm geschlagen hat. 61. „Mama!" brülle ich. 62. „Ich will zu meiner Mama!" 63. Sie wird abgeführt. 64. Weggebracht. 65. Fort aus meinem Sichtfeld. 66. Ich brülle weiter. 67. 68. 69. 70. „Wo ist meine Mama?" schniefe ich. 71. „An einem besseren Ort." spricht der Mann mit ruhiger Stimme. 72. Panik. 73. „Im Himmel?" 74. Er lacht, hat schiefe Zähne und blondes Haar: „Hoffentlich bald. Sie war eine böse Frau, hat nen Juden geliebt, bei ihnen gekauft und ihnen zur Flucht verholfen." 75. „Aber wem erzähle ich das?" 76. „Bist ja nur ein Rekrut." 77. 78. Ich weine, während der Mann mich noch immer festhält. 79. 80. 81. Er hebt mich einfach hoch. 82. Trägt mich raus. 83. In ein Auto. 84. Mit anderen Kinder. 85. 86. Sind deren Mamas auch böse gewesen? 87. Die Türen schließen sich. 98. „Ab an die Front mit euch!" 90. Ich fange wieder an zu Weinen. 91. Wie die anderen Kinder auch. Nur die Größeren sind ein bisschen tapfer und starren stumm zu Boden, ohne dass Tränen über ihre Wangen laufen. 92. Mama ist bald im Himmel! 93. Da sind Oma und Opa auch! 94. Tot, das sind sie. 95. „Mama ist tot!" schreie ich meine Gefühle und Gedanken heraus. 96. Die Tränen platschen auf meinen Schoß. 97. Mein Hände verkrampfen sich. 98. Ein lauter Ton erklingt. 99. Mit dem eigene Tod stirbt man, mit den Tod eines anderen muss man leben, denke ich. 100. Meine Mama ist Himmel und vom Himmel fallen die Bomben herab.

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