Ich höre wie er den Computer hochfährt. Er hat es nie bemerkt, aber die Leitungen knacken dabei immer und jeder der diese Geräusche nicht kennt, würde sie nicht bemerken. Aber ich habe den Zusammenhang erkannt.
1. Ich zwinge mich ruhig zu bleiben. 2. Ich zwinge mich dazu, ruhig auf dem Sofa sitzen zu bleiben und weiterhin Tolstois zu lesen. 3. Ich zwinge meine Augen dazu auf dem Papier zu bleiben und mein Gehirn dazu zu lesen was auf diesem Papier steht. 4. Aber meine Gedanken schweifen ab. 5. Und das obwohl ich das Papier fixiere. 6. 7. 8. 9. 10. Ich lege das Buch zur Seite. 11. Und seufze. 12. Ich stehe auf. 13. Und bin mir nicht mal sicher ob ich das sehen will. 14. Ob ich diesen Schmerz in seinem Gesicht ertragen kann. 15. Ich hasse es wenn er das macht und anschließend ein bisschen Alkohol aus dem Vorratsschrank trinkt. 16. Er kommt dann immer erst am nächsten Morgen ins Bett. 17. Seine Augen untermalt von dunklen Schatten. 17. Ich gehe die Treppe hoch. 18. 19. 20. 21. 22. Und starre auf die geschlossene Türe vor mir, die genauso aussieht wie all die anderen Türen hier. 23. Sie steht einen Spalt offen und ich drücke sie auf. 24. Er sitzt da und starrt auf den Bildschirm. 25. Seine Finger klicken unaufhörlich auf die Maus, sodass die Bilder umherspringen. 26. Foto für Foto. 27. Wenn ich es sehe, könnte ich weinen oder schreien. 28. Dann kommt ein Video. 29. Nur zögerlich klickt er es an und ich wünsche mir, er würde es nicht tun. 30. Aber er tut es. 31. „Was machst du da?" fragt sie und schaut verwirrt in die Kamera. 32. „Ich will deine Schönheit für die Nachwelt festhalten." höre ich meinen Mann sagen während er selber ins Bild tritt. 33. 34. „Ein bisschen schief." kommentiert er sein Werk. 35. Sie kichert. 36. 37. Ich betrachte meinen Mann, wie er das Video betrachtet. 38. 39. Und ich wünschte, ich könnte wissen was er gerade denkt. 40. „Mach das endlich aus!" platzt es plötzlich aus mir herum. 41. Er wirbelt herum. 42. 43. 44. 45. 46. „Wie lange stehst du da schon?" ist das erste was er herausbringt. 47. „Lange genug um zu wissen, dass wenn sie nie gegangen wäre, ich niemals mit dir in diesem Haus wohnen würde." 48. „Sag so was doch nicht." 49. „Ich sage es, weil es stimmt." 50. Schweigen. 51. Warum muss er ausgerechnet schweigen. 52. Er redet doch sonst so viel. 53. „Lösche die Fotos!" 54. Meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt. 55. 56. „Ich kann nicht." 57. „Weil du sie noch immer liebst." 58. „Ich habe sie geliebt aber jetzt, ich erwarte ein Kind mit dir vergiss das bitte nicht!" 59. 60. Ich beginne zu schreien. 61. Weiß selbst nicht warum ich so wütend werde, so wütend bin. 62. All die Jahre war ich nur das Aushängeschild für die Firma, für seine Freunde. 63. Die hübsche Frau. 64. Die intelligente Frau. 65. Die schwangere Frau. 66. Aber er hat nie aufgehört sich diese Fotos anzusehen. 67. Diese Fotos von ihr. 68. „Dann lösche die Fotos!" schreie ich. 69. „Was macht das für einen Sinn?" fragt er und hebt seine Stimme an. 70. „Dass du sie endlich vergisst!" 71. Auch wenn ich insgeheim weiß, dass er sie nie vergessen wird. 72. „Ich werde sie nie vergessen, du trägst jetzt ihren Namen, ihr Leben." schreit er zurück. 73. „Wäre es dir lieber gewesen wenn sie mich zurückgeschickt hätten?", frage ich verbittert und fühle wie die Tränen fließen, „Wäre sie noch da, wäre ich nicht hier!" 74. Ich schreie meine Verbitterung hinaus. 75. „Meinst du ich wollte je diese Rolle übernehmen von dieser Frau?" 76. „Natürlich nicht, aber so konntest du im Land bleiben!" 77. „Und bei dir bleiben! Hast du das schon völlig vergessen?" 78. Er kommt auf mich zu. 79. So wie immer wenn ich wütend bin. 80. Und versucht mich zu beruhigen. 81. Er will mich an sich ziehen und mir einen Kuss geben. 82. Als wäre dann alles wieder wie vorher. 83. Als wäre dann alles wieder gut. 84. Er will mich beruhigen, aber ich stoße ihn fort. 85. Mit solch einer Wucht, dass er taumelt und fällt. 86. Ein Knall ertönt und ich sehe Blut, sein Blut und Kabel, Glas und Plastik das am Boden liegt. Die Festplatte, die Bilder und Videos sind zerstört. 86. „Alles in Ordnung?" frage ich panisch. 87. Er antwortet nicht. 88. Ich lasse mich neben ihn fallen, das wollte ich nicht! 89. Ich habe ihn doch trotzdem geliebt! 90. Er hat keinen Puls mehr. 91. Ich habe ihn getötet, die Eifersucht hat ihn getötet. 92. Das kann nicht sein! 93. Ich muss flüchten, wenn sie herausfinden, dass er tot ist, werden sie mich befragen und meine wahre Identität herausfinden! 94. Ich wische mir meine Tränen aus den Augen. 95. Ich habe noch mein gesamtes Leben und zu trauern. 96. Ich muss das Kind beschützen. 97. Er hat mich ohnehin nie geliebt. Ich war nur der Ersatz für sie. 98. Ich nehme die Schere vom Schreibtisch und schneide mir blindlings die langen Locken ab, dann werfe ich meine Brille zu Boden und trete beim rausgehen drauf. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, denke ich. 100. Ich flüchte und lasse mein altes Leben mal wieder sterben.
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100 Sekunden
Cerita PendekDen eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. - Auch wenn es nur einige wenige Sekunden sind die man mit dem Tod des Anderen leben muss. Für alle, denen 100 Sekunden reichen. -lvnrzz