100 Sekunden - Frauenfeindlichkeit

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Unsicher steige ich in das Fahrzeug. Blicke nach links und blicke nach rechts damit niemand sieht wie ich diese Straftat begehe. Erst Schlüssel in das Schloss und dann Türe auf. Wieder Schlüssel ins Schloss, diesmal in das Zündschloss und Zündung starten. Hoffentlich werde ich nicht gesehen, schießt es mir durch den Kopf.

1. Ich fahre langsam an. 2. Werde dann schneller. 3. Sicherer. 4. Finde die Pedale blind. 5. Spiegel sind eingestellt. 6. Sitz sowieso. 7. Umklammere das Lenkrad. 8. Mit meiner linken Hand überprüfe ich den Sitz meines Kopftuches. 9. Dann biege ich ab. 10. Ich fahre gut. 11. Viel besser als ih es selber erwartet habe. 12. Mein Gehirn ist nicht zu klein zum Auto fahren. 13. Und so wie ich sitze, drückt auch nichts auf meine Gebärmutter. 14. Trotz der Tatsache, dass ich hinter dem teuer site, kann ich Kinder bekommen. 15. Natürlich darf hier von niemand erfahren. 16. Ansonsten wäre ich fällig. 17. Eine Straftäterin. 18. Dabei kann ich wirklich nicht begreifen, was so verkehrt daran sein soll, dass mein Geschlecht, Frauen, weibliche Mitbürger, Auto fahren dürfen. 19. 20. 21. 22. Ich fahre ohne Führerschein. 23. Weil ich den nicht machen darf. 24. Das Gesetz meines Heimatlandes verbietet es mir. 25. Aufmerksam huschen meine Augen über die Fahrbahn. 26. Hier sind kaum Menschen unterwegs. 27. Gut für mich. 28. Nicht gut für den liegen gebliebenen Pkw vor mir. 29. Panik kommt hoch. 30. Eigentlich sollte ich helfen. 31. Aber ich bin nur eine Frau, eine Frau am Steuer. 32. Ich verlangsame mein Tempo. 33. Fahre heran. 34. Erst jetzt sehe ich, dass die Scheibe zerbrochen sit. 35. Und kein Fahrer in Sicht zu sein scheint. 36. Blutrote Flüssigkeit drängt sich in mein Sichtfeld. 37. 38. 39. Wenige Meter vor dem Wagen sehe ich den Fahrer. 40. Blutend. 41. Auf dem Bauch liegend. 42. Gesicht von mir abgewandt. 43. Anhalten oder nicht? 44. Ich entscheide mich für letzteres. 45. Schweren Herzens lasse ich den Mann dort liegen. 45. Aus Angst. 46. Vor den Konsequenzen. 47. Und des Selbstschutz wegen. 48. Denn ich dürfte ja egentlich gar nicht hier sein. 49. In einem Auto sitzen, allein und nicht als Beifahrerin. 50. Illegale Autofahrerin lässt Mann verbluten. 51. Jetzt bin ich doppelt schuldig. 52. Mein schlechtes Gewissen wächst unaufhörlich. 53. Sekündlich zwicken die Gewissensbisse. 54. Mir wird eines klar. 55. Mit dieser Schuld kann ich nicht leben. 56. 57. 58. Mitten auf der Straße und ohne offensichtliche Wendemöglichkeit manövriere ich den Wagen solange vor und zurück, bis ich zurückfahren kann. 59. 60. 61. Zur Unfallstelle zurück. 62. Ich rase zurück. 63. Was auch immer passiert, ich muss dem Mann helfen. 64. 65. Da! 66. Noch ein Wagen. 67. Werfe alle Zweifel und Ängste über Bord. 68. Aus dem anderen Wagen steigt ein Mann, der offensichtlich Hilfe angefordert hat. 69. Ich renne auf den Verletzten zu. 70. Drehe ihn herum. 71. Überall Blut. 72. Versuche zu helfen. 73. Aber was weiß ich schon? 74. Kaum etwas. 75. „Sind Sie ganz allein?" höre ich die Stimme des anderen Mannes hinter mir. 76. Ich schlucke schwer. 77. „Allein Auto gefahren?" bohrt er weiter nach, während er dem Verwundeten hilft. 78. Verarztet. 79. Plözlich beginnt er mich zu beschimpfen. 80. 81. Immer weiter. 82. 83. 84. 85. Sirenenleuchten. 86. Kommen näher. 87. 88. Ich springe auf. 89. „Würde mich nicht wundern, wenn du ihn getötet hast!" brüllt der Mann. 90. Ich zucke zusammen. 91. Tot? 92. Alles umsonst? 93. Er zetert weiter. 94. Die Sanitäter plötzlich auch, grundlos. 95. Ich will mich wehren. 96. Fort laufen und weg fahren von diesem Ort, diesen Geschehnissen für die ich doch nichts kann, oder doch? 97. Werde grob gepackt. 98. Zu Boden geschleudert. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit demTod eines anderen muss man leben, erinnereich mich. 100. Ich sterbe weil ich eine Frau bin.

In Saudi-Arabien ist es bisher verboten gewesen, dass Frauen alleine Auto fahren dürfen. Eine neue Regelung sieht vor, dieses Verbot aufzuheben. Damit wäre Saudi-Arabien das letzte Land der Welt (!) das Frauen das Auto fahren ohne männlichen Begleiter erlaubt.
Dennoch herrscht dort noch immer die Unterdrückung der Frau, was nicht bedeutet, dass es in anderen Ländern unbedingt besser sein muss.
Selbst bei uns sind Frauen noch immer unterdrückt, auch wenn dies vielen nicht bewusst ist.

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