Unsere Koffer sind gepackt. Ich habe eine dreireihige Sitzreihe für mich, obwohl ich nicht damit gerechnet habe. Sonst ist doch auch immer alles überfüllt und das Handgepäck stapelt sich am besten noch auf dem Schoß des Nachbarn. Es ist unbequem, was nicht zuletzt an den über hundert weiteren Passagieren liegt. Einer lauter als der Andere, als sei es ein Wettbewerb und bei diesem Krach soll ich schlafen. Ich spüre wie die Maschine in die Luft abhebt, ein wunderschöner Anblick. Die Menschen, die Städte, das Land, alles wird immer kleiner, unbedeutend wie meine Sorgen.
1. Schräg gegenüber von mir steht eine Person auf, dabei haben wir doch noch gar nicht die Durchsage bekommen, dass wir uns wieder abschnallen können. 2. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. 3. Eine weitere Person steht auf. 4. 5. Eine verzerrte Stimme ertönt: „Das ist eine Entführung." 6. Keine Sekunde später zücken die Beiden Waffen. 7. 8. Keiner wagt es einen Mucks zu sagen. 9. Es fühlt sich an, als hätten alle Passagiere die Luft angehalten. 10. „Damit wir uns verstehen", die zweite Stimme ist akzentfrei, klar und deutlich, „Keine krummen Dinger, oder eine hübsche, kleine Kugel schießt durch euren Kopf, oder besser, durch den eures Kindes! Partners! Freundes! Mutter! Vater! 11. 12. Zufrieden sehe ich die Personen von hinten nicken. 13. Was sollen wir tun? 14. Irgendetwas müssen wir tun können! 15. Panik durchströmt meinen Körper. 16. Hinter mir höre ich, wie ein Kind zu quengeln beginnt. 17. Ich reiße meinen Kopf zu dem Kleinen um. 18. 19. 20. „Stellen Sie das Kind still!" ertönt wieder die verzerrte Stimme. 21. Ich reiße meinen Kopf wieder nach von. 22. Einer der Entführer dreht sich um. 23. Dreht sein Gesicht zu mir. 24. Und ich blicke in die strahlendsten, eisblauen Augen die ich je gesehen habe. 25. Sie sieht mich an. 26. Mustert mich. 27. Ihr Haar versteckt sie unter einem übergroßen, schwarzen Pullover 28. 29. 30. Ich sitze, aber ich spüre dass mir meine Knie weich werden. 31. Ein absurder Gedanke schießt mir durch den Kopf. 32. 33. 34. Schnell verbanne ich ihn wieder aus meinem Kopf. 35. Das Kind hinter mir wird lauter. 36. 37. Ihre eben noch menschlichen Gesichtszüge werden augenblicklich starr. 38. Sie starrt das Kind böse an. 39. 40. 41. „Wir sagten, Sie sollen das Kind still stellen!" ihre Stimme klang schneidend kalt. 42. 43. Das Kind lässt sich kaum von der langsam in Panik geratenen Mutter beruhigen. 44. Sie taxiert das Kind. 45. Es fühlt sich an, als würde mir das Blut in meinen Adern gefrieren. 46. Meine Gedanken kreisen nur um die Frage, was ich tun kann. 47. Alle anderen Passagieren sind bemüht sich ruhig zu verhalten. Bloß nicht auffallen. 48. Fieberhaft überlege ich weiter nach einer Lösung. 49. 50. Es gibt kein Entkommen. Wir sitzen fest. 51. In einem Flugzeug, mehrere tausend Meter über dem Meeresspiegel. 52. Ich spüre wie die Verzweiflung der Angst weicht. 53. Sie kriecht durch jede Spalte des Flugzeugs. 54. Alle haben panische Angst. 55. Der Atem jeder einzelnen Person ist flach, aus Angst aufzufallen. 56. 57. Das Kind ist noch immer am schreien. 58. „Ich sagte, es reicht!" kreischt die Frau aufgebracht und will abdrücken. 59. Ein Schrei. 60. Wir fliegen eine scharfe Kurve. 61. Wir werden nach links gedrückt. 62. 63 Die Frau hält sich gerade noch so fest, doch der andere Entführer fällt zur Seite. 64. Meine Chance! 65. Wer wenn nicht ich? 66. Ich springe auf. 67. Renne mit wenig Gleichgewicht den Gang entlang. 68. Nur ein paar wenige Meter. 69. Springe. 70. Und reiße der Frau die Pistole aus der Hand. 71. Mit geschlossenen Augen drücke ich ab. 72. 73. 74. 75. Ich öffne meine Augen, Beide liegen vor mir. 76. Blutig. 77. Ein Freudenschrei ertönt irgendwo im Passagierraum. 78. Sie nennen mich einen Held. 79. Ich blicke in die leeren eisblauen Augen vor mir. 80. Ziehe ihr behutsam die Kapuze vom Kopf. 81. Nein! 82. Ich hatte recht. 83. Die ganze Zeit über habe ich es gespürt. 84. 85. Alle schreien und weinen vor Glück, doch ich höre nur das Blut, das in meinen Ohren rauscht. 86. Lauter rauscht als der Ozean unter uns. 87. Ich habe sie umgebracht. 88. Sie ist seit Monaten verschollen. 89. Mein eigen Fleisch und Blut. 90. 91. Ich habe meine Tochter umgebracht. 92. Ich habe die Gewissheit, sie wurde entführt. 93. Ich habe die Gewissheit, sie ist tot. 94. Irgendwer zieht mich zur Seite. 95. Die Geräusche dringen wieder an mein Ohr. 96. „Wir sinken!" höre ich eine männliche Stimme plötzlich kreischen. 97. Ich starre über die Köpfe aus einem der kleinen Fenster. 98. Uns trennt nur noch wenige Meter vom Meer 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Umsonst, all das ist umsonst passiert denke ich, ehe mich die Wassermassen verschlucken.
-Anmerkung (wird wieder gelöscht):
Nicht mein Meisterwerk, ganz und gar nicht. Irgendwie fernab jeglicher Realität. Ich habe mich beim Schreiben von "100 Sekunden - Umsonst" entfremdet. Daher meine Frage an euch: Wie seht ihr das? Ist mir der Wendepunkt gelungen und vorallem ist es nicht zu drastisch, so dass man nur mit dem Kopf schüttelt?
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100 Sekunden
KurzgeschichtenDen eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. - Auch wenn es nur einige wenige Sekunden sind die man mit dem Tod des Anderen leben muss. Für alle, denen 100 Sekunden reichen. -lvnrzz