100 Sekunden

100 Sekunden - Wahlen

Ich stehe auf dem Rednerpult. Die Augen der Menschen sind nur auf mich gerichtet, bis mein Gegner, mein Konkurrent zu reden anfängt.

1. „Ich bin kein Lügner." 2. Ich verdrehe die Augen. 3. Jeder Politiker ist ein Lügner. 4. Das gehört zu unserem Berufsbild. 5. „Ich bin auch kein Magier der alle Träume wahr machen kann." 6. 7. „Geschweige denn Gott." 8. 9. 10. „Aber ich bin Politiker." 11. Innerlich applaudiere ich ihm sarkastisch für diese Erkenntnis. 12. „Und ich kämpfe für meine, für Ihre Ideale!" 13. Kurze Pause. 14. Und dann Applaus. 15. 16. Bloß weil er schöne Reden schwingen kann und nicht. 17. 18. Er heuchelt noch ein „Danke" in die Runde, ehe die Fragen auf uns einprasseln. 19. „Was denken Sie voneinander? Es scheint ja immer als würden Sie sich prima verstehen." 20. Schnell antworte ich: „Natürlich tun wir das!" 21. Zu schnell. 22. Er knetet unruhig meine Hände. 23. Punkt für mich. 24. Dann grinst er. 25. „Nun ja, um ehrlich zu sein", er macht eine kurze Pause und sieht mich an, das Herz rutscht mir in die Haare, „haben wir durch den Konkurrenzkampf einige Differenzen zu beseitigen." 26. 27. Das sitzt. 28. Er spinnt Lügen aus meinen Lügen heraus. 29. Und das kommt gut an. 30. Merke ich doch sofort an seinem dreckigen, reumütigen Lächeln. Mich kann er nicht täuschen. 31. Die Menschen jedoch nicht. 32. „Ich denke das ist ganz normal, aber-" 33. Er unterbricht mich. 34.  „Und wie ich dieses Lachen hasse." beleidigt er mich. 35. In einer Tour geht das so weiter. 36. 37. „Dabei ist es doch eigentlich ganz normal, dass wir uns nicht verstehen, schließlich sind wir Konkurrenten." 38. 39. 40. Und die Menge jubelt. 41. Grölt. 42. Wegen dieser scheinbar schonungslosen Ehrlichkeit. 43. 44. 45. „Ach ja?" meldete ich mich wieder zu Wort. 46. Und werfe all meine Vorwürfe über Bord. 47. Ganz egal. 48. Die Blicke sind wieder auf mich gerichtet. 49. Und mein Mund öffnet sich. 50.  „Ja sogar so sehr, dass ich-" 53. Ich brauche einen Moment zum Nachdenken. 54. Bin nicht so gut im Improvisieren. 55.  „Dass ich ihn mit bloßen Händen erwürgen könnte!" 56. Zufrieden trete ich einen Schritt zurück. 57. Aber mein Applaus bleibt aus. 58. Nur noch mehr Fragen prasseln auf mich ein. 59.  „Zuerst sagen Sie alles sei gut und nun wünschen Sie ihm den Tod." 60. Ich kann meine Agentin jetzt schon die Hände über den Kopf zusammen schlagen sehen. 61. Er grinst selbstzufrieden. 62. Dann geht alles ganz schnell. 63. Ein Schuss. Schüsse. 64. Schreie. 65. Panisches Gekreische. 66.  „Attentat!" brüllt jemand. 67. Und ich kann noch nicht mal ausmachen woher diese Schreie und Schüsse kommen. 68. Ich werde zur Seite gezogen. 69.  „Mörder!" werde ich angeschrien und begreife es nicht. 70. Erst jetzt als ich all das Blut sehe, verstehe ich. 71. Er ist tot. 72. Mausetot. 73.  „Das haben Sie doch geplant!" 74. Nein! 75. Der Securitymann ist definitv nicht auf meiner Seite. 76. „Der Täter läuft noch da draußen herum!" schreie ich und löse mich aus meiner Starre als wir den Seitenausgang erreichen. 77.   „Anstatt mir Vorwürfe zu machen, sollten Sie mich schützen!" 78. 79.  „Vielleicht bin ich ja das nächste Ziel!" 80. Jemand zieht den Mann vor mir zur Seite. 81. „Er hat recht, Mann." 82. Natürlich habe ich das. 83. „Wie konnte das überhaupt passieren?" frage ich und mir  schießt wieder das blutige Bild in den Kopf. 84.  „So viel Sicherheitspersonal für nichts." schnaufe ich. 85.  „Er ist immer noch ein Verdächtiger." der Securitymann betrachtet mich abschätzig. 86. 87.  „Und wie soll das gehen? Ich trage keine Waffe bei mir!" 88. „Auftragsmord." 89. „Motiv: Wahlgewinn." 90.  „Als ob ich nach heute gewinnen würde." 91. Das Volk sehe lieber einen Toten in diesem Amt als mich. 92. 93. Das Selbstmitleid ergreift Besitz von mir. 94. Und ich versinke darin. 95. 96. Unfassbar. 97. 98. Unglaublich. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, denke ich. 100. Ich begreife zu spät, dass die Verschwörung uns beide mit einer Kugel trifft.