100 Sekunden - Unbeaufsichtigt

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Ich trage sie zurück auf ihr Zimmer, welches ich selbst für sie errichtet habe, in ihr Bett. Sie ist tapfer, das weiß ich. Zum Dank lese ich ihr jeden Wunsch von den schönen dünnen Lippen, den hellgrünen Augen und ihren kleinen Fingern ab. Ihre blonden Locken fallen in ihr Gesicht, als ich sie sanft auf die Matratze lege, ein letztes mal streiche ich ihr über die Wange und gebe ihr einen Kuss.

1. Ich schließe behutsam die Türe hinter mir, damit ich sie nicht störe. 2. Dann drehe ich den Schlüssel im Schlüsselloch herum. 3. Einmal. 4. Und noch einmal. 5. Nur zur Sicherheit. 6. Das Telefon klingelt. 7. Ich eile die Treppe herauf. 8. Zurück ins Erdgeschoss. 9. Das Telefon ist alt, noch ein Kabeltelefon. Nur keines mit Drehscheibe, die Dinger konnte ich noch nie leiden. 10. Ich nehme den Hörer ab. 11. Es ist meine Mutter. 12. Wer sonst würde mich auch anrufen wollen? 13. Es ist immer meine Mutter. 14. 15. 16. Sie raubt mir den letzten Nerv. 17. Nimmt mir, raubt mir die Zeit mit meiner Kleinen. 18. Sie ist das Schönste, was ich besitze. 19. Der Juwel in meinem Lebens. 20. Meine Gedanken driften ab. 21. Zu ihr, zu meiner Kleinen, meinem Engel. 22. 23. 24. 25. Aber meine Mutter reißt mich heraus aus meinen Fantasien. 26. Spricht von Jobsuche und Mietkosten. 27. Von Familiengründung. 28. Spricht von der Realität. 29. Dabei hassen wir die Realität. 30. Die Gesellschaft. 31. Wir dürften nicht sein. 32. Sie dürfte mich nicht lieben. 33. Ich dürfte sie nicht lieben. 34. Aber wir gehören zusammen. 35. Mutter fragt mich nach meiner Meinung. 36. Habe ich nicht, nicht zu den Themen, die sie anspricht. Ich habe nur eine Meinung zu meiner Kleinen, meinem Engel, eine sehr hohe Meinung. 37. 38. 39. 40. Ich sei ein Versager. 41. Mutter brüllt in den Hörer. 42. 43. 44. Ich müsste auflegen und mich nie mehr melden. 45. Kann es aber nicht, denn Mutter hat recht. 46. Bin zu schwach, lenke mich ab mit den schönen Fotos meines Engels. 46. 47. 48. 49. 50. Ein Knacken ertönt von unten. 51. Ich widerstehe dem Drang nach zu sehen. 52. 53. Es knackt wieder. 54. Ich beruhige mich selbst. 55. Sie kann nicht fort. 56. Will nicht fort. 57. 58. 59. 60. Ein Scheppern. 61. Ein Knall. 62. Ich lasse den Hörer fallen. 63. Die Rufe meiner Mutter ignorierend. 64. Renne die Stufen hinab. 65. Hatte ich nicht abgeschlossen? 66. Die metallene Tür steht offen, weit offen. 67. Sie ist fort. 68. Weg. 69. Ich schreie. 70. 71. „Engel?" 72. „Engel! Wo bist du?" 73. Renne die Treppe hinauf. 74. 75. Schreie. 76. Renne in jeden Raum. 77. 78. Höre das Schreien meiner Mutter am Hörer. 79. 80. 81. Weit entfernt. 82. Wo, ist alles was ich denken kann. 83. 84. 85. Nein, Engel! 86. Die Haustüre steht offen, genauso offen wie die metallene Tür im Keller. 87. Ich bin wie gelähmt. 88. Sehe sie. 89. Auf der anderen Straßenseite. 90. Rufe. 91. Rufe ihren Namen lauter. 92. Sie sieht, bemerkt mich. 93. Rennt, rennt vor mir weg. 94. Und rennt vor ein Auto. 95. Ich schreie, will zu ihr, aber sie ist fort. 96. Für immer fort. 97. Da ist die Telefonschnur. 98. An der noch immer meine Mutter spricht, aber mein Engel spricht nicht mehr mit mir, mein Engel ist fort und ich bin noch hier. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Und erdrossele mich, so unbeaufsichtigt wie sie es war als wir aufeinandertrafen.

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