100 Sekunden - Telefonat

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Die Straßen sind voller Menschen. Geschäftsleute, die gehetzt über die rote Ampel rennen, Mütter und Väter, die ihre quengelnden Kinder beruhigen und Freunde, die gemeinsam lachend die Straßen blockieren. Ich betrachte sie durch die Scheibe des kleinen Cafés während ich warte.

1. Ich spüre wie mein Handy vibriert. 2. Und höre wie es klingelt. 3. Mein Lieblingslied. 4. Krame in meiner Handtasche herum, die auf meinem Schoß steht. 5. 6. 7. 8. Da ist es, zwischen den Tempos und meinem Kamm. 9. 10. Ich nehme den Anruf an. 11. Melde mich mit meinem Namen. 12. Und werfe unruhig einen Blick auf die Uhr. 13. „Hallo." die Stimme meiner Mutter ertönt durch den Hörer. 14. „Wo bleibst du?" frage ich sofort. 15. Mein Ton ist genervt. 16. Ruhiger füge ich hinzu: „Ich warte bereits seit zehn Minuten." 17. 18. Stille. 19. 20. „Mama?" frage ich besorgt. 21. Sie seufzt. 22. „Es tut mir leid." sagt sie. 23. „Ich schaff' es nicht." 24. Ich presse meine Lippen aufeinander. 25. Besorgnis breitet sich in meinem Brustkorb aus, schleicht in meine Luftröhre und schnürt mir den Hals zu. 26. „Ist alles in Ordnung?" frage ich sie und versuche die Panik in meiner Stimme zu unterdrücken. 27. 28. „Ja." antwortet sie. 29. Das glaube ich ihr nicht. 30. Sie lügt. 31. Damit ich mir keine Sorgen mache. 32. „Mama..." beginne ich. 33. 34. 35. „Wie geht es dir?" 36. „Gut." erwidert sie prompt. 37. Und hustet. 38. „Mama!" ermahne ich sie. 39. Ermahne sie so wie sie es früher bei mir tun musste, wenn ich die Wahrheit nicht erzählen wollte. 40. „Fein", seufzt sie, „Ich fühle mich nicht besonders gut." 41. Mein Herz zieht sich zusammen. 42. 43. „Wie stark sind die Schmerzen?" 44. Ihre Stimme klingt noch immer wenig überzeugend. 45. „Hast du deine Medikamente genommen?" will ich wissen. 46. „Mhm." macht sie. 47. „Bitte, dann geht es dir besser!" flehe ich sie an. 48. „Es hat keinen Sinn, ich habe nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt." murmelt sie, sodass ich es fast nicht höre. 49. 50. Ich springe auf. 51. „Hör zu, ich fahre jetzt zu dir." 52. Sie meint, dass ich das nicht tun müsste, dass es nicht nötig sei. 53. Dass sie nicht will, dass ich sie so sehe. 54. So kaputt, so schwach, so leidend. 55. Ich lege einen Schein auf den Tisch und laufe zur Türe, um diese aufzustoßen. 56. Und laufe los. 57. Noch im Laufen ziehe ich mir meine Jacke über. 58. 59. „Ich bin in einer Viertelstunde da." spreche ich in den Hörer. 60. „Du musst wirklich nicht-" 61. „Ich will aber." stelle ich klar. 62. Meine Stimme klingt fest. 63. Überzeugt. 64. Dabei fühle ich mich alles andere als das. 65. Ich fühle mich schwach und ausgelaugt. 66. Aber ich muss stark sein. 67. Sie hustet wieder. 68. „Bleib dran, ja?" fordere ich mit einer möglichst liebevollen Stimme. 69. Auch wenn ich sie nicht sehe, weiß ich, dass sie zwischen dem Husten nickt. 70. „Gut." murmele ich ein wenig beruhigt. 71. Dabei habe ich Angst um sie, sie will nicht mehr ins Krankenhaus. 72. 73. Da war sie zu oft. 74. Viel zu oft. 75. Sie erzählt mir stolz, dass sie an diesem Morgen die Petunien selbst einpflanzen konnte. 76. 77. 78. Sofort lobe ich sie. 79. Bestärke sie in ihrem Lebensmut, der manchmal noch zum Vorschein kommt. 80. Als ich die Straße überquere, schrecke ich auf. 81. Ein Auto kommt nur wenige Millimeter vor mir zum Stehen. Der Fahrer flucht laut. 82. Ich hebe entschuldigend meine Hand. 83. Ist ja nichts passiert. 84. Eilig haste ich weiter. 85. Und stehe schon wieder vor einer roten Ampel. 86. Unruhig trete ich von einem Fuß auf den Anderen. 87. Murmel etwas in den Hörer. 88. Meine Mutter beginnt wieder zu Husten. 89. 90. „Alles okay?" ihr Husten steigert sich. 91. Wird lauter. 92. Rauchiger. 93. Panischer. 94. „Mama?!" 95. Panik. 96. 97. Es wird still, die Ampel ist noch immer rot. 98. Ein dumpfer Knall ertönt am anderen Ende der Leitung. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Ich renne panisch los und das blanke Metall einer Stoßstange trifft mich.

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