100 Sekunden - späte Reue

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Ich bin bis eben noch voll bepackt gewesen, voll bepackt auf dem Fahrrad, weil der Sprit so verdammt teuer ist. Bepackt mit fünf Papiertüten in denen alle denkbaren Lebensmittel gewesen waren. Auf dem alten Fahrrad bin ich gestrauchelt und habe versucht mein Gleichgewicht zu halten, die rote Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, die Blicke der versnobten Anzugträger ignorierend.  Rote Äpfel und Tomaten, grüne Kresse und brauner Kaffee waren aus der Tüte auf den grauen Asphalt gefallen als die Tüten rissen. Das ist der Auslöser gewesen. Deshalb habe ich in meinen Nachttisch gegriffen und habe mich auf den Weg gemacht. Nun habe ich mein Ziel erreicht.

1. Mit zittrigen Händen und wackeligen Beinen öffne ich die Türe. 2. Eine Frau blickt mich panisch an. 3. Versteckt ihr kleines Kind hinter sich. 4. Noch ehe ich etwas gesagt habe, hat sie die Situation überblickt. 5. Ich setze schnell an, ehe sie mir zuvor kommen kann: „Überfall!" 6. Alle Köpfe drehen sich ruckartig zu mir. 7. 8. „Keine falschen Bewegungen! Und alle Hände nach oben wo ich sie sehen kann!" drohe ich. 9. Und ziehe den Revolver aus meiner Jackentasche. 10. Stille. 11. Alle erstarrt. 12. „Bares zu mir! " 13. Ich richte den Revolver auf eine Frau hinter dem Schalter. 14. Sie hebt ihre Hände hoch, genauso wie es alle anderen tun. 15. Sie fixiert mich mit großen kullerrunden Augen. 16. Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. 17. Schnelle große Schritte. 18.  Vielleicht fünf Schritte und ich stehe direkt vor ihr. 19. Meine Augen, meine Blicke müssen überall gleichzeitig sein, um alles zu sehen. 20. „Schneller!" rufe ich und verstelle meine Stimme, damit ich bedrohlicher klinge. 21. Langsam bewegt sich die zierliche Frau und holt das Geld. 22. So dass ich alles sehen kann. 23. Jeden Handschlag. 24. Das Kind beginnt zu weinen. 25. „Ruhe!" brülle ich, wodurch es nur noch mehr heult. 26. Hatte noch nie ein Händchen für Kinder. 27. „Verdammt nochmal!" schreie ich und deute drohend mit der Waffe auf den kleinen Jungen. 28. 29. „Beruhigen Sie ihr Kind!" 30. Die Mutter beugt sich herunter, wiegt den Kleinen in ihren Armen und zeigt mir dabei ihre Hände, ganz gehorsam. 31. Keiner stoppt mich. 32. Keiner will den Helden spielen. 33. Das habe ich schon früh gelent, niemand will den Helden spielen, dazu sind sie alle zu feige. 34. Die Finger der Frau huschen über irgendwelche Tasten. 35. „I-Ic-Ich kann das nicht." 36. Ene Kollegin sieht ihr mitleidig zu. 37. Ich richte die Waffe auf einen Mann einen Schalter weiter. 38. „Sie!" 39. „Machen Sie schnell!" 40. 41. Er agiert schneller. 42. Gibt den Code ein. 43. Gibt mir Bargeld. 44. Er hat raue Hände, wie ich. 45. Ein Arbeiter mit Anzug. 46. Hätte er nicht ich sein können? 47. Wieso tue ich das? 48. 49. „Sir?" fragt die Frau vorsichtig und streckt mir ein weiteres Bündel Scheine hin. 50. Ich reiße es ihr aus den Händen. 51. Sodass sie zurück taumelt. 52. „Wie viel ist das?" verlange ich zu wissen. 53. Die Frau schaut panisch den Mann an, der mir ruhig antwortet. 54. „Ein paar tausend." 55. Reicht mir das? 56. 57. 58. Ich bin mir nicht sicher. 59. „Ruhe!" brülle ich weil getuschelt wird und das Kind einfach nicht seine Klappe halten will. 60. Ob sie wissen wie nervös ich bin? 61. 62. Egal! 63. Ruhe kehrt nicht ein. 64. Plötzlich steht der Typ direkt vor mir und nicht mehr hinter seinem Schalter. 65. Versucht mich zu Boden zu reißen. 66. Mich zu überwältigen. 67. Ein Schlag auf mein Gesicht, meine Nase und mein Mund sind getroffen. 68. Ich schmecke Blut. 69. Und spüre den Schmerz. 70. Pistole bloß gut festhalten! 71. Ich schaffe es meinen Arm loszureißen. 72. Und richte die Waffe auf ihn. 73. Er hat verloren. 74. Will ihn wieder in sein Kabuff schicken. 75. Aber ein anderer schmeißt sich von hinten auf mich. 76. Und löst die Sicherung. 77. Ein Schuss. 78. Ein Schuss? 79. Ich zucke zusammen. 80. Das Ding war doch nicht geladen. 81. Aber da ist Blut. Viel Blut. 82. „Ist er-?" frage ich fassungslos. 83. Ich lasse mich auf meine Knie fallen. 84. „Das wollte ich nicht!" beteuerte ich schreiend. 85. „Wirklich nicht!" 86. Reiße meine Maske ab, meine schwarze Skimaske. 87. Mund zu Mundbeatmung. 88. Soll doch helfen. 89.  Soll doch immer helfen! 90. 91. „Ist er tot?" 92. Von irgendwoher ertönt ein deutliches 'Ja'. 93. Und Sirenen. 94. Ich bin abwesend und dumm gewesen. 95. Wieso habe ich das getan? 96. Nur weil diese Woche, diesen Monat, dieses Jahr alles schiefgelaufen ist? 96. Ich starre auf die Waffe in meinen Händen. 97. Und halte sie mir an den Kopf. 98. Mit dieser Schuld kann ich, will ich nicht lebe. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, denke ich. 100. „Tut mir leid!"

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