100 Sekunden - Ironie des Schicksals

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Eingehend studiere ich die mir vorliegenden Ergebnisse. Es fällt nie leicht zu verkünden, dass die Untersuchungen einen positiven Befund ergeben haben. Immer gibt es Tränen und noch mehr Schmerz. Menschen die sich in lebendige Zimmerbrunnen oder Salzsäulen verwandeln. Das ist der Grund warum ich gar nicht wissen will, warum ich mich in letzter Zeit so matt fühle. Schmerz zieht Schmerz nach sich. Meine Türe wird aufgerissen, es ist Schwester Monika: „Schnell!"

1. Ich springe auf. 2. Folge ihr mit dem Wissen, dass wieder etwas schlimmes passiert ist. 3. Und lasse mir auf dem Weg in den OP-Saal die Lage erklären. 4. Autounfall .5. Viel Blutverlust. 6. Schneller Handlungsbedarf. 7. Wie immer eigentlich. 8. Wir erreichen den OP-Saal. 9. Werfe mir den Kittel über. 10. Und ziehe die blauen Gummihandschuhe an. 11. 12. Tief einatmen. 12. 13. Und dann loslegen. 14. Sie trägt eine Beatmungsmaske und sieht furchtbar entstellt aus. 15. Verdrehte Gliedmaßen, starrerBlick, geschlossene Augen. 16. Und dennoch gerade so am Leben. 17. „Mehrere gebrochene Rippen." 18. Ich greife nach dem Skalpell. 19. Mit ruhigen Händen gehe ich vor. 20. Bloß keine Unruhe zulassen. 21. Ruhe bewahren. 22. Für die Patientin. 23. Für meine Kollegen. 24. Für mich. 25. Jeder Handgriff muss sitzen. 26. Oder es wird tödliche Folgen haben. 27. Folgen die ich nicht schultern kann. 28. Nicht schultern will. 29. Zu viel Verantwortung. 30. Ich spüre die Blicke auf mir, die Blicke der Arzthelfer und -helferinnen. 31. Fragende Blicke. 32. Ich räuspere mich. 33. „Also gut." 34. Schnitt. 35. Das Skalpell schneidet wie Butter. 36. Nur schneide ich hier keine Butter, sondern ein menschliches Lebewesen. 37. Ein Geschöpf in der Sphäre zwischen Leben und Tod. 38. Nichts durchtrennt. 39. Der Schnitt saß. 40. Wie immer. 41. Denn das muss er. 42. Wieder ermahne ich mich zur Ruhe. 43. Tausend Patienten und Patientinnen vor dieser hier. 44. Und jetzt bekomme ich plötzlich Angst. 44. Angst zu versagen. 45. Ich blicke auf meine Hände. 46. Sie zittern. 47. Das ist mir noch nie zuvor passiert. 48. Egal! 49. Ich muss weiter machen! 50. Nächster Handgriff. 51. Blut. 52. Zu viel Blut für diesen kleinen Schnitt. 53. Das merkt jeder. 54. Panik kommt auf. 55. Steigt an. 56. Meine Hände zittern noch mehr. 57.„Schnell!" brüllt, ruft, schreit jemand. 58. Alles zu schnell. 59. Viel zu schnell. 60. Ich höre Worte wie Kompresse, Tod, Kanüle. 61. Der Schwindel vom Morgenkehrt zurück. 62. Ein Arzt der sich nicht selbst kurieren kann. 63. Aber muss. 64. Denn sonsts terben andere. 65. Sonst sterben unschuldige Mädchen wie das auf dem OP-Tisch. 66. „Herztöne fallen!" 67. Defibrillator. 68. Alles dreht sich. 69. Wen rettet man in so einem Fall wie diesem? 70. Den Retter oder den zu Rettenden? 71. Auch wenn der Retter jetzt genauso gerettet werden muss. 72. Praktisch gesehen, wäre es besser mich, den Retter, retten. 73. Aber ich habe einen Eid geschworen. 74. Rettet sie. 75. Rettet das Kind. 76. Würde ich sagen, wenn ich noch sprechen könnte. 77. Kann ich aber nicht. 78. Unfähig mich zu bewegen. 79. Kein Muskel gehorcht mehr, kein Gedanke mehr wirklich greifbar. 79. Gehirn und Körper in Zuckerwatte gepackt. 80. Kein Ton verlässt also meinen Mund. 81. Stehe stumm und dumm da. 82. „Doc!" kreischt jemand. 83. Kann meinen Kopf nicht wenden. 84. Vielleicht ist es Lindsay, die neue Schwester, oder Maren die nicht mehr ganz soneue Schwester. 85. Alles was ich sehe sind zwei leblose Körper. 86. Zwei?! 87. Nein! 88.Ich bin nicht tot! 89.Aber kurz davor? 90. Ein Knall, ein Zucken, ein Stromschlag. 91. Aber nur in mir. 92. Der Defibrillator. 93. War nie für das Mädchen auf dem OP-Tisch. 94. Sie wird kaum noch beachtet. 95. Und ich begreife warum. 96. Mein zitternder Schnitt ist tödlich gewesen. 97. Für sie. 98. Hätte ich bloß die Anzeichen nicht ignoriert! 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. 100. Ich kann das nicht mehr, jeden Tag sitzt der Tod neben mir und schielt mir über die Schultern.

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