„Du musst essen." es klingt wie ein Befehl. Ich hasse Befehle. „Ich muss gar nichts." erwidere ich schnippisch. Sie seufzt. „Du weißt, dass ich hier bin um dir zu helfen." Ich nicke, natürlich
weiß ich das. Wie könnte ich das vergessen? Das ist es, was mir jeden Tag erzählt wird. „Du hast gerade wieder angefangen mit fester Nahrung, wenn du-" Fauchend unterbreche ich ihren gutmütigen Monolog: „Mich hat nie jemand gefragt ob ich wieder essen will, ob ich Hunger habe." Sie seufzt ergeben: „Na gut, hast du Hunger?" Ich schüttele mit dem Kopf und presse ein Nein hervor. Dabei schiebe ich den Teller von mir weg. Sie erwidert mit traurigem Blick: „Dein Körper hat Hunger." „Mein Körper ist fett."1. Sie ist solch harte Worte von mir gewöhnt. 2. Bin ja nicht die einzige auf dieser verkackten Station. 3. Essstörungen nennen sie es. 4. 5. Andere finden Todeswunsch passender. 6. Und mir ist es egal, solange sie nur aufhören mich zu nerven. 7. Seit der Tropf aus meinem Arm raus ist, ist alles eine einzige Farce. 8. Früher oder später legen Sie mich ohnehin wieder an den Tropf. 9. Damit ich zunehme. 10. Dabei sehen sie nur nicht meine Fettpolster. 11. Vielleicht sind ja alle blöd. 12. Oder dumm. 13. Oder beides. 14. Wäre gar nicht so abwegig. 15. Schließlich stellen Sie mir jeden Tag die selben Fragen. 16. Ob ich Hunger hätte. 17. Wie ich mich fühle. 18. Wie ich aussehe. 19. Was meine Ziele sind. 20. Sie zieht sich einen Stuhl heran. 21. Und setzt sich. 22. Eine Diät würde ihr auch mal gut tun. 23. „Ich kann es nicht über mich bringen, Lebensmittel weg zu schmeißen." erklärt sie mir, als sie meinen Blick bemerkt. Ich mustere kritisch ihren fetten Körper. 24. 25. „Die Kinder in Afrika", fängt sie an, „leiden-" 26. Ich unterbreche sie abermals: „Ah! Das Paradebeispiel." 27. Eifrig nickt sie. 28. Genervt verdrehe ich die Augen. 29. Klang ich etwa freundlich, etwa begeistert? 30. „Hast du schon mal 'ne Doku darüber gesehen?" 31. Ich schüttel mit dem Kopf. 32. Wann denn? 33. Wieso denn? 34. Hatte immer besseres zu tun. 35. „Dann wird es aber mal Zeit dafür!" ruft sie begeistert und klatscht in die Hände. 36. Enthusiastische Krankenschwestern sind die Schlimmsten. 37. Sie steht auf und schalte den Fernseher ein. 38. Holt eine DVD aus meinem Nachttisch. 39. Innerlich lache ich. 40. So sieht es also aus. 41. Das war geplant. 42. Sie legt die DVD auf und drückt auf Play. 43. Der dramatische Titel erscheint. 44. „Wie viel hast du gestern abend noch mal gewogen?" will sie wissen. 45. Ich zucke mit den Schultern, während mich die ersten Bilder schockieren sollen. 46. „Ich glaube ein 31 Kilogramm." meint sie und erklärt, dass sie später noch mal zurückkommt. 47. Was bin ich froh, dass sie endlich weg ist. 48. Und dass ich meine Ruhe habe. 49. Gut, der Film läuft noch. 50. Sie zeigen eine junge Frau, bis sie jünger als ich. 51. Das war ein Kind. 52. Man sieht die Knochen deutlicher vorstehen. 53. Tigh Gap. 54. Wangenknochen. 55. Schlüsselbein. 56. Ein Strich in der Landschaft. 57. Fast schon eklig. 58. Die müsste aufgepäppelt werden, anstatt ein Film über sich drehen zu lassen. 59. Eine herzzerreißende Szene in der sie etwas ist, wird gezeigt. 60. Ekel durchläuft mich. 61. Dann wird ihre Körpergröße eingeblendet. 62. „1,68 m". So groß wie ich. 63. Ich stutze. 64. Sie wiegt 32 Kilogramm. 65. Fast zu viel wie ich. 66. So wenig wie ich. 67. Sie wiegt ein Kilo mehr als ich und sieht so aus. 68. So eklig dünn. 69. So unsexy. 70. Und dann stirbt sie, kurz vor Drehende sagt der Bildschirm. 71. Mit einem Kilo mehr als ich. 72. An Unterernährung. 73. Ich bemerke wie mir Tränen aus den Augen laufen. 74. So jung wie ich. 75. Voller Lebensmut. 76. Und tot. 70. Wie ich? 78. Nicht! 79. Ich will leben! 80. Ich blicke an mir herab. 82. Fühle das Bauchfett. 83. Das nicht vorhandene Bauchfett. 84. Fahre über meine Knochen. 85. Schließe meine Augen. 86. 87. Und denke nach. 88. 89. Drifte ab. 90. Sehe ich auch so aus? 91. Hoffentlich nicht. 92. Was wenn doch? 93. 94. Das Bild der Toten gib mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. 95. Mein Herz verkrampft sich. 96. Vor Schmerz und Schwäche 97. weil ich Hunger hab. 98. Ich will nach dem Teller greifen und essen. 99. Den eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, denke ich. 100. Ich wollte nie, dass sie mit meinem Tod leben müssen.
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100 Sekunden
Short StoryDen eigenen Tod stirbt man, mit dem Tod eines anderen muss man leben, erinnere ich mich. - Auch wenn es nur einige wenige Sekunden sind die man mit dem Tod des Anderen leben muss. Für alle, denen 100 Sekunden reichen. -lvnrzz