Mai drückte meine Schulter während ich den Männern zusah, wie sie unsere Möbel und Kisten in einem Container verstauten. Heiße Tränen liefen mir über dir Wangen und auch die Augen meiner Mutter waren nicht trocken. Während wir so auf dem Bürgersteig standen liefen die Menschen um uns herum. Nur wenige drehten sich nach uns um. Umzüge gehörten nun mal zum Stadtbild New Yorks oder jeder anderen großen Stadt. Ich selbst hätte Fremden in dieser Situation auch keine Aufmerksamkeit geschenkt.
„Alles wird gut.", redete Mai beruhigend auf mich ein, doch ich schüttelte nur weinend den Kopf. Morgen war es so weit. Um halb neun würde unser Flug nach Deutschland gehen. Und jetzt war es schon Nachmittag. 16:47 um genau zu sein. Weniger als 16 Stunden verblieben mir nur noch hier! In meinem Heimatland, meiner Heimatstadt, in meinem Zuhause. Einem Zuhause mit kahlen Wänden in dem ich auf einer Luftmatratze schlafen werden würde. Heute war mein letzter Tag in der Schule gewesen, nur Mai, einige wenige Lehrer und ich hatten Bescheid gewusst. Die anderen waren Ahnungslos gewesen. Morgen würden sie es erfahren, vielleicht auch erst später, wobei ich mir das bei unserer Gerüchteküche nicht vorstellen konnte. Doch morgen war ich schon weg, ich würde einfach weg sein, ohne Abschied. Nur von Mai würde ich mich verabschieden. So hatte ich es gewollt.
Ein Möbelpacker trug die letzte Kiste heraus packte sie in den Container und schloss ihn mit der Hilfe seiner Kollegen. Ich schluchzte auf, es war so endgültig. Meine Mutter schaute besorgt zu mir und wollte mich in die Arme nehmen, doch ich stieß sie weg. Das war alles ihre Schuld. Ihre und die von Papa. Auch wenn ich wusste, dass das nicht die Wahrheit war, redete ich mir das ein. Das war gemein, aber in irgendeiner perversen Art und Weise half es mir. Jetzt drehten sich mehr Leute nach uns um. Ein Mädchen im Rollstuhl, das vor einem Umzugscontainer stand, heulte und eine Szene machte, schien interessanter zu sein, als nur ein heulendes Mädchen im Rollstuhl vor einem Umzugscontainer.
Am liebsten hätte ich sie alle angeschrien.
Die Passanten, weil sie mein Leiden als interessant auffassten.
Die Nachbarn, die gaffend hinter den Vorhängen hervorlukten.
Meine Mutter, die anscheinend nicht merkte was für einen Fehler sie gerade begann.
Meinen Vater, der gar nicht hier war, deshalb und weil er eben denselben Fehler begann wie Mama.
Die Möbelpacker, die eigentlich nur ihre Arbeit taten, aber meinen Eltern bei diesem Umzug halfen.
Die Piloten, die das Flugzeug steuern würden und uns weg von hier bringen würden.
Einfach alle.
Außer Mai.
Da kam mir ein schrecklicher Gedanke, was wäre, wenn das Schiff mit unserem Container an Bord untergehen würde? Wir würden alles verlieren was wir besitzen außer den paar Dingen, die wir in unseren Rucksäcken und Koffern dabei hatten. Doch das waren so gut wie nur Klamotten, keine Erinnerungen. Meine Oma hatte einmal gesagt, dass man alle Erinnerungen im Kopf behalten würde. Doch inzwischen weiß ich, dass es nicht so ist. Nur Fetzen bleiben hängen, manchmal die Unnötigsten. Manchmal, wenn man Glück hat, ein ganzer Film von etwas Schönem. Doch man kann diese Bilder niemandem zeigen.
Ich hatte gar nicht bemerkt wie alle weggegangen waren, bis Mai sagte: „Komm, April, es ist spät."
„Wie spät?", fragte ich panisch.
„Kurz nach sechs.", antwortete Mai vorsichtig, weil sie wusste, dass mir die Zeit davon lief.
Weniger als 15 Stunden. Scheiße.
Ich atmete einmal tief durch und nickte. Vom ganzen weinen hatte ich mörderische Kopfschmerzen. Ich drehte den Kopf und sah Mai an. Und wie wir da so auf einem Bürgersteig mitten in New York standen, sah ich auf einmal Ms. Marlees Züge in Mais. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir das nie aufgefallen, vielleicht bildete ich es mir in diesem Moment auch nur ein, weil mein Unterbewusstsein es sehen wollte. Ich hatte verdrängt, dass Ms. Marlee Mai's Mutter gewesen war. Dass Mai mutterlos war.

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Aprilynne
Teen FictionAprilynne ist 16 und an den Rollstuhl gefesselt. Als ob das nicht schon genug Probleme wären, stößt sie an ihrer neuen Schule auf Mitschüler, die scheinbar etwas zu verbergen haben. Wird April es schaffen hinter ihre Geheimnisse kommen?