Wortlos starrte ich auf den Linoleumboden der Turnhalle, während ich sowohl Liams als auch Aidens brennende Blick auf mir spürte. Mai stand neben mir. Ich war überaus von ihrem Verhalten überrascht, sie wich mir seit Anfang des Schultages nicht von der Seite, sie hatte schon auf dem Parkplatz gewartet. Sie hatte nichts gefragt, nur darauf gewartet, dass ich das Gespräch eröffnen würde. Doch ich hatte es nicht getan und so hatten wir geschwiegen. Es stand mir nicht der Sinn nach irgendwelchen bedeutungslosen Plaudereien. Ich versuchte immer noch zu verarbeiten was gestern geschehen war. Die Ereignisse hatten keinen Abriss gehabt, nachdem ich die Wahrheit über die Natur meiner und Liams Beziehung herausgefunden hatte.
Nur am Rande bemerkte ich, dass ich wieder in alte Muster verfiel, und meine Gedanken mit einigen komplexeren Satzbauteilen ausschmückte, bevor ich auf diese Schule gekommen war, sogar bevor ich Bücher für mich entdeckt hatte, war es eine Art Spiel für mich gewesen. Doch irgendwann hatte ich nicht mehr gewusst, wann ich mit mir selbst spielte und wann mein Kopf von selbst es so übernahm. Das tat er immer noch, wenn ich mit Situationen oder sogar meinem ganzen Leben überfordert war. Ich hatte angefangen so zu sprechen, was mir die Freundesuche nicht gerade vereinfacht hatte. Kein siebenjähriges Kind wollte mit einem komisch redenden Besserwisser spielen, gar befreundet sein.
Mai neben mir starrte Anstelle meiner die Jungen böse an. Ich sah es aus dem Augenwinkel und war in diesem Moment überwältigt. Ich wusste nicht, wann mich das letzte Mal jemand verteidigt hatte, ohne einen Hintergedanken so wie... aber ich wollte nicht an ihn denken, auch wenn er keine zwei Meter von mir entfernt stand und mich immer noch unentwegt anstarrte. Immer noch gerührt von der kleinen Geste Mais, griff ich nach ihrer Hand und drückte diese. Mai erwiderte den Druck.
Vielleicht war es ja so unter Freundinnen, wie zwischen uns beiden gerade. Meine Erinnerungen an meine Freundschaft mit Ally waren weitestgehend verblasst, von denen des Unfalls überlagert. Zwar hatte ich Filme und Bücher gelesen, in denen Freundschaft vorkam, doch wie alle anderen wusste ich, dass es eine kleine rosarote Märchenwelt war, in denen sie spielten. Nicht real, von Hollywood oder dem Autor ausgeschmückt mit kitschigen Details bis jeder sich wünschte in dem Buch beziehungsweise dem Film zu leben anstatt in der Realität. Doch leider kann man der Realität nicht entfliehen, jedenfalls nicht für lange Zeit. Die Filme oder Bücher entführen einen nur für einige Stunden in eine andere Realität. Ich selbst hatte es oft genug am eigenen Leib erfahren. Ich hatte oft genug Ausflucht in Bücher gesucht und der Sturz zurück in mein echtes Leben war jedesmal härter als das Mal davor gewesen. Dennoch hatte ich immer wieder immer weiter gelesen, war mir den Konsequenzen bewusst gewesen, hatte aber nicht auf die kostbaren Stunden außerhalb meines Lebens verzichten wollen.
Das Mrs. Macarthur die Anwesenheit überprüfte merkte ich erst, als sie meinen Namen ein anscheinend zweites Mal schrie. Bevor ich die Möglichkeit hatte zu antworten, kam mir jemand zuvor.
„Sie ist da.", antwortete Liam.
Ich hob den Blick und versuchte so finster wie möglich drein zu schauen.
„Ich kann schon selbst sprechen.", zickte ich ihn an.
„Ich dachte nur, dass du es verlernt hat. Du hast den ganzen Tag noch nicht mit mir gesprochen", er zuckte die Schulter als währe nichts gewesen.
Empört schnappte ich nach Luft. „Denkst du wirklich, dass du das jetzt vor allen mit mir ausdiskutieren musst?" Meine Stimme war schrill. Wieder ergötzten sich meine Mitschüler an dem kleinen Drama das sich ihnen bot und wieder war es Mrs. Macarthur, die sich einmischte.
„ALSO HABE ICH DAS JETZT RICHTIG VERSTANDEN? SIE REDET NICHT MEHR MIT DIR UND IST SAUER?", brüllte sie durch ihr Megafon, was die Mädchen, die neben ihr standen die Gesichter verziehen ließ.
Ungläubig sah ich meine Sportlehrerin an.
„Haben sie kein eigenes Leben?", platzte ich hervor.
Liam bedeutete mir mit einer Geste still zu sein. Ich zeigte ihm den Mittelfinger, war aber still.
„Ja haben sie.", begann er langsam. Er schien einen Moment zu überlegen. Ich kam mir vor wie im falschen Film. Seine kurze Pause nutzte Mai um meine Hand loszulassen und die kurze Distanz zwischen ihnen zu überbrücken.
Wüten funkelte sie Liam von unten heran an und stieß ihm einen ihrer giftgrünen Nägel gegen die Brust.
„Liam", Mais Stimme war leise und drohend, aber doch deutlich genug, dass ich sie trotz Abstand hören konnte. „Ich weiß was du für eine Scheiße abgezogen hast. Genau wie du." Ich Blick wanderte kurz zu Aiden, der die ganze Zeit still zugesehen hatte und für mich völlig unter den anderen Schülern untergegangen war. „Und deshalb weiß ich auch, dass du nicht mal ansatzweise ein Recht darauf hast hier so eine Show abzuziehen. Wenn April nicht wäre, würde ich laut durch die Schule, durch ganz New York und durch die ganze Welt posaunen, was für ein widerwärtiger hinterhältiger Arsch du bist und was du getan hast, doch ich weiß, dass es nichts nützen würde. Das du sie schon zerstört hast. Ihr beide. Und vielleicht war es jetzt auch nicht meine beste Idee dir das vor versammelter Mannschaft im Sportunterricht zu erzählen, vor einer Lehrerin mit Megafon, die nicht davor zurückscheuen würde das alles, was ich gerade erzählt habe in der Pausenhalle zu verkünden." Mais Blick huschte zu Mrs. Macarthur. „Nichts für ungut.", sagte sie fast endschuldigend.
Mrs. Macarthur fuhr sich fahrig mit der Hand über die Augen. Sie weinte. Sie weinte tatsächlich. Befremdet sah ich sie an. Gott, ich war mit lauter Irren auf einer Schule.
„Macht nichts, fahr fort Kind.", erwiderte sie schniefend.
Unbeirrt fuhr Mai fort und stach Liam ein weiteres Mal in die Brust: „Also lass sie verdammt nochmal in Ruhe. Und wenn du nochmal mit irgendwem so einen Bullshit abziehst dann blüht dir gewaltiges. Ich weiß nicht wie doll es weh tut, wenn man von einem Rollstuhl angefahren wird, aber wir werden es dann ja sehen. Auch wenn April sich dagegen sträubt, es gibt mehr als eine Rollstuhlfahrerin in New York als sie. Und wenn ihr alle jetzt mit glotzen und lauschen fertig seit, würden April und ich jetzt gerne verduften."
Mit diesen Worten warf sie ihr pinkes Haar zurück, kehrte Liam und Aiden den Rücken zu und wollte sich gerade auf den kurzen Weg zu mir machen als Liam noch etwas sagte. Ganz leise, sodass nur Mai und Aiden es hören konnten.
Sein Gesichtsausdruck war gequält, aber er schien es voller Überzeugung zu sagen. Aus Mais Augen sah ich Funken sprühen als sie herumwirbelte und eisig sagte: „Das hättest du dir vorher überlegen sollen."
Liam sah mich an und mir stockte nicht zum ersten Mal seit Anfang der Stunde der Atem. Er sah aus als hätte ihm jemand zwischen die Beine getreten, sein schönes Gesicht war vor Schmerz entstellt. Schnell wandte ich das Gesicht ab, während ich Ally schnauben hörte. Es wunderte mich, dass sie sich so zurück gehalten hatte.
Mai packte die Griffe meines treuen Begleiters und drehte mich herum. Mrs. Macarthur leistete keinen Wiederstand, als wir uns auf den Weg zur Tür machten. Wahrscheinlich hätte es weder Mai noch mich im Moment gekümmert, wenn sie uns verboten hätte zu gehen.
„Du weißt es?", flüsterte ich.
„Ja.", gab Mai zerknirscht zurück.
„Alles gut.", sagte ich. „Danke."
„Bitte.", ihre Stimme war voller Überraschung. „Aber so macht man das unter Freundinnen."
Wieder fragte ich mich, woher der plötzliche Sinneswandel herkam, doch ich würde die restliche Zeit genießen, die ich noch hier verbringen konnte. Wenigstens war ich dann nicht allein.
Als die Tür hinter uns zuschlug blieb Mai stehen, sie kam um den Rollstuhl herum und sah mir fest in die Augen.
Und begann auf mich einzureden wie auf ein kleines Kind: „Jetzt wird alles gut, April. Jetzt ist es fast wieder wie am Anfang. Weißt du noch was ich damals gesagt habe? April und Mai, das passt ja. Und es passt April. Jetzt kann alles-"
„Mai?"
Bei meiner gequälten Stimme sah sie mich erschrocken an.
„Was ist denn?"
„Ich- ich werde nicht mehr lange hier sein."
Ich schluckte und sah in Mais weit aufgerissenen Augen.
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Aprilynne
Teen FictionAprilynne ist 16 und an den Rollstuhl gefesselt. Als ob das nicht schon genug Probleme wären, stößt sie an ihrer neuen Schule auf Mitschüler, die scheinbar etwas zu verbergen haben. Wird April es schaffen hinter ihre Geheimnisse kommen?