4. Kapitel

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39 Tage zuvor
Als ich heute morgen aufwachte, taten mir die Füße vom vielen Laufen weh, da ich den gesamten Heimweg zu Fuß gegangen bin - auf High Heels versteht sich. Den Fehler, nicht genug Bargeld für ein "Notfalltaxi" mitzunehmen, werde ich ebenfalls nie wieder machen. Ja, gestern war ein wirklich beschissener Tag (entschuldigt die Wortwahl), aber meine verplemperte Zeit bekomme ich durch meckern wohl auch nicht wieder zurück.

Mit einem USB Stick in der Hosentasche und einer Federmappe inklusive Collegeblock in der Hand, machte ich mich gegen zehn Uhr früh erneut auf den Weg zum Internetcafé. Die Wahrscheinlichkeit Alexander jemals wiederzutreffen war so gering, dass ich meine Hoffnungen vom Vortag bereits aus meinen Gedanken verbannte.
Der Computer, an dem ich mich gestern noch angemeldet hatte, war heute belegt. Daher suchte ich mir einen Platz, der so weit wie möglich vom Bartresen entfernt lag - José ging mir schon wieder gewaltig auf die Nerven. Nicht einmal begrüßt hatte ich ihn an diesem Morgen. Ich band mir meine Haare in einem hohen Pferdeschwanz zusammen, krempelte die Ärmel meiner grau gestreiften Bluse hoch und setzte meine Brille auf die Nase. Zum ersten Mal kam ich mir wie eine richtige, vorbildliche Studentin vor. Ich fuhr den Computer hoch (es dauert jedes Mal Ewigkeiten) und meldete mich mit meinen normalen Zugangsdaten an. Als ich ins Internet ging, ploppte erneut die kleine Werbeanzeige von "Talking to Strangers" auf. Auf diesen Moment hatte ich insgeheim gewartet! Ich wirbelte herum und klickte dann ganz zufällig drauf. Uppsi. Alles reiner Zufall! Daraufhin fischte ich den USB Stick aus meiner Jeans, schloss ihn am Rechner an und öffnete den "Bilder" Ordner. Darin fand ich peinliche alte Selfies, Familienfotos und unter anderem ein paar kurze Clips. Allerdings auch ein paar neuere Bilder, die durchaus als Profilbild verwendet werden könnten. Ich ging zurück auf meinen Benutzernamen "Finchen93", klickte auf "Bearbeiten" und anschließend auf "Bild hochladen". Aus meinen Bildern wählte ich ein Foto aus dem letzten Parisurlaub mit meinem Bruder aus (Daniel ist verheiratet und lebt derzeit in München, weshalb wir uns nicht so oft sehen können), worauf ich lächelnd vor dem Eiffelturm stehe - nichts ahnend darüber, dass meine Mutter ein Jahr später sterben würde. Die guten alten Zeiten...
Eine lange Zeit lang verweilte ich im Chatroom und stöberte durch die Chatpartner. Weiter. Weiter. Weiter. Moment - ach ne doch nicht, also weiter. Er war nicht mehr da, "CaptainAlex" war unauffindbar. Ich ließ die Seite also einfach im Hintergrund laufen, ohne sie groß zu beachten. Es wäre nahezu unmöglich, dass er aus heiterem Himmel auftauchen würde.

Nachdem ich drei große Becher Kaffee ausgetrunken und zwei DIN A4 Seiten mit wichtigen Infos zum Grundgesetz vollgeschrieben hatte, wechselte ich ausnahmsweise ein paar Worte mit José.
"Hey, ehm.. könntest du eventuell kurz auf meine Sachen aufpassen, während ich auf Toilette bin?"
Er grinste schelmisch.
"Klar, kein Problem. Für solch ein schönes, junges Mädchen wie dich tue ich doch alles!"
Würg. Jetzt musste ich erst recht auf Klo. Was für ein elendiger Schmierlappen. Ich drehte mich um und versuchte sein Kompliment so weit es geht zu ignorieren.
Nachdem ich die schwere Eichentür aufgestoßen hatte, klammerte ich beide Hände um das Waschbecken und blickte auf um mich im Spiegel zu sehen. So viel Koffein auf einmal bekam mir wohl nicht gut - mir war auf einmal unglaublich schwindelig. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und nahm nun den Geruch von Zigarettenrauch wahr. Plötzlich stand das rothaarige Mädchen hinter mir (meine heimliche Stalkerin), die ich zuvor immer auf gute neunzehn Jahre geschätzt hatte. Nun wurde mir klar, dass sie nicht älter als sechzehn sein konnte. Sie blickte mich eindringlich an und zog ein weiteres Mal genüsslich an ihrer Zigarette.
"Erzähl's nicht meinen Eltern", flüsterte sie mir zu und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen. Völlig perplex schüttelte ich den Kopf und stürmte wieder ins Café zurück. Was zur Hölle war das bitte? Nicht nur, dass Rauchen auf den Toiletten verboten war - viel mehr schockierte es mich, wie sehr man sich doch in manchen Menschen täuschen konnte.

"Danke dir, José!"
Er nickte und zwinkerte mir zu, während er gerade eine Tasse abtrocknete. Hör auf mit mir zu flirten man! Als ich mich wieder an die Arbeit machen wollte, wurde ich von einem lauten Pling abgehalten. Der kurze Ton ertönte so schrill und laut, dass mich nun die anderen zwei Gäste mit ihren Blicken durchlöcherten (als wäre es das Schlimmste auf der Welt - ein stinknormaler Nachrichtenton). Moment mal! Eine Nachricht!
Über dem kleinen Fenster tauchte nun eine grüne eins auf. Neugierig bewegte ich den Mauszeiger in Richtung Chatroom. Doch in der Sekunde, als ich ihn öffnete wurde mir klar, dass ich bloß einen Kettenbrief erhalten habe. Meine Mutter würde in zwölf Jahren sterben, wenn ich die Nachricht nicht bis Mitternacht an acht weitere Personen weiterleiten würde. Tut mir Leid, schon geschehen.
Mir wurde zum achtzigsten Mal seit den letzten vierundzwanzig Stunden bewusst, dass es tatsächlich unmöglich war. Er war für immer fort und damit musste ich jetzt einfach fertig werden. Punkt - aus. Mach kein Drama! Ich führte mich mittlerweile auf wie eine armselige, alleinstehende Frau, die sich nach dem Anblick eines schönen, jungen Mannes plötzlich nach Liebe sehnt. So ein Unsinn, unsere Unterhaltung war so kurz und nichtssagend!

Ich packte meine Stifte zusammen, klappte den Block zu und loggte mich aus dem Studentenweb aus. Ich war drauf und dran mich ebenfalls vom Chatroom abzumelden  - Pling.
Das kann nicht wahr sein. Ich traute meinen Augen kaum.

CaptainAlex: "Guten Morgen Fine, so sieht man sich wieder. Zufall? Oder Schicksal, weil du das letzte Mal einfach so gegangen bist?"

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt