41. Kapitel

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7 Tage danach
Die Anreise verlief gut und ich bin in einem gemütlichen Hostel in der Nähe vom Stadtzentrum untergebracht. Der Flug hat mich nur unendlich müde gemacht. Obwohl er nicht lang war, fühlte ich mich nach der Ankunft unendlich erschöpft. Zum einen lag es an dem ungewohnten Temperaturunterschied von etwa achtzehn Grad, zum anderen weil mir viel durch den Kopf ging. Selbstverständlich bin ich nicht komplett ohne Sorgen in den Flieger gestiegen - ich dachte viel nach. Ich konnte nicht einmal definieren, über was ich überhaupt nachgedacht habe. Jedenfalls war ich reichlich beschäftigt.
Ich fing außerdem tatsächlich an, meine Reise in einem Videotagebuch festzuhalten und Fremde daran teilhaben zu lassen. Nun wusste zwar jeder immer wann ich wo war und was ist dort unternommen habe (Privatsphäre? Nö.), aber dies war der einfachste Weg meine Erlebnisse festzuhalten. Natürlich könnte ich sie auch aufschreiben, aber du meine Güte! Wie soll ich das bloß schaffen? Niemals könnte ich den wunderschönen Sonnenuntergang hinter dem Colosseum, welcher von gelb zu orange ins angenehme azur bis lila überging, atemberaubend genug beschreiben, wie ich es in Wirklichkeit wahrgenommen hatte. Mein Notizbuch würde ich dennoch nicht aufgeben - es hat mich nun schon so gut begleitet. Hoffentlich finde ich zwischendurch Zeit, um mein Leben in Worte zu fassen. Auch, wenn ich doch nun eigentlich alle Zeit der Welt habe ...

12 Tage danach
Ich bin weitergezogen und nun in der Toskana gelandet. Mit dem Reisebus hat es mich ziemlich viele Nerven gekostet hierher zu kommen, allein schon, weil mein Sitznachbar der Meinung war, sein Mettbrötchen mit Zwiebeln ausgerechnet während der Fahrt zu verspeisen. Das dabei verbliebene Duftwölkchen durfte ich dann wegschnuppern. Wie dem auch sei - hier teile ich mir eine mediterrane Finca mit mehreren Backpackern und einer unglaublich freundlichen Haushälterin. Beim Abendessen habe ich sogar ein wenig Italienisch und Spanisch lernen können.

16 Tage danach
Perfekt, dass mir Santiago ein paar wichtige Dinge über Spanien beigebracht hat. Derzeit befinde ich mich in Sevilla. Paella mag ich allerdings trotzdem noch nicht...

1 Monat danach
Puh, es ist so viel passiert. Kaum zu glauben, aber das Aprilwetter ist ausnahmsweise traumhaft! Ich habe viel unternommen und mir Spanien ein wenig genauer angesehen – auch, wenn meine Mutter nicht unbedingt eine Rundreise unternommen hatte. Ob nun ein Besuch bei einem der schrecklichen Stierkämpfe (einmal und nie wieder!) in Madrid oder einer Bootstour auf dem Guadalquivir. In Valencia habe ich Ende März noch die Fallas de San José erleben dürfen und somit den Frühlingsbeginn gefeiert. Momente, die ich nie vergessen werde und wirklich ereignisreiche zwei Wochen, in denen ich außerdem reichlich Farbe angenommen habe. Endlich sah ich frischer aus und nicht mehr so leichenblass wie sonst. Das bemerkten auch diejenigen, die meinen Videoblog verfolgten. Ich hatte sage und schreibe hundertsiebenundachtzig Aufrufe auf meine ersten Clips aus Rom und Sevilla bekommen, was für mich eine unheimlich große Anzahl an Leuten war. Immerhin ein komplett besetzter Hörsaal. Niemals könnte ich vor so vielen Menschen frei sprechen – mit der Anonymität des Internets ging dies zum Glück ganz einfach. Natürlich wusste ich nicht, wer es sich ansah. Aber die Tatsache, dass sich Fremde für ausgerechnet meine Reise interessierten, machte mich unendlich glücklich und ließ mich die Klickzahlen mit einem breiten Grinsen verfolgen.

Da wo ich jetzt bin, ist es deutlich kälter und leider auch regnerischer, ähnlich wie in Deutschland. Mamas nächster Eintrag hat mich nach Derry am River Foyle geführt, einer Kleinstadt in Nordirland. Hier schrieb sie, dass sie zum ersten Mal so richtig betrunken gewesen sei, was mich wunderte, da sie zu diesem Zeitpunkt ungefähr genauso alt war wie ich sein musste. Anscheinend brauchte sie diesen Rausch nicht, ihr Leben war aufregend genug.
Als ich gestern Abend mein Guinness in einem der typisch, irischen Pubs trank, wurde ich zum ersten Mal rückfällig. Ich dachte an ihn. Nicht, weil ich mich wie meine Mutter damals maßlos betrank, sondern einfach, weil unser Lied ertönte. Die Melodie eines geliebten Songs erreichte meine müden Ohren und ich fühlte mich wie elektrisiert. Heroes von David Bowie. Es war dieses eine Stück, welches uns von Anfang an zu verbinden schien. So lange nichts, kein bisschen Erinnerung an Alex und dann saß ich auf dort auf diesem heruntergekommenen Barhocker, schaute den Einheimischen beim Singen (es war eher eine Art Grölen) ihrer Nationalhymne zu und konnte den Klang der Barlautsprecher nicht ignorieren. Den einzigen Ausweg aus dieser Situation sah ich darin Annika anzurufen und mir neuen Mut zusprechen zu lassen. Was würde ich bloß ohne diese tolle Frau machen?! Ein paar Worte ihrerseits reichten und ich raffte mich wieder auf. Sie sagte mir bloß das, was ich eigentlich schon wusste – er verdient keinen weiteren Gedanken und somit auch keine weitere Träne mehr von mir. Er selbst hatte entschieden zu gehen und Reisende sollte man ja bekanntlich nicht aufhalten.

Wenige Tage später legte ich geschätzte 800km nach London zurück. Ein Traum aus meiner Kindheit, den ich mir endlich erfüllte. Zugegeben musste ich einige Seiten des Notizbuches überspringen, da ich leider kein Konzert von U2 oder irgendeine andere Veranstaltung von damals besuchen konnte. Schade eigentlich.
Für London plante ich daher mehrere Wochen ein, ohne dabei großartig durch das Land zu reisen, da mich die Stadt schon so lange faszinierte. Ich wollte mich ausnahmsweise nicht wie ein Eindringling fühlen, sondern lieber wie eine ‚Teilzeiteinheimische', wie ich es gerne bezeichnete. Mich interessierte jede Avenue, jede Brücke, jede Tea Time und jede noch so kleine Facette dieser englischen Schönheit. Daher verliebte ich mich schnell in diesen Ort. So wie in Alex. Mist, schon wieder.

3 Monate später
Aus ‚mehreren Wochen' wurden nun doch gute eineinhalb Monate. Die wohl bisher beste Entscheidung meiner Reise. Der Hauptgrund dafür war eigentlich, dass ich aus Zufall eine Stelle als Zeitungsverkäuferin am Oxford Circus angeboten bekommen habe. Verrückt, wie das Ganze zustande gekommen ist. Diesen Prozess nun hier niederzuschreiben würde den Rahmen glaube ich deutlich sprengen.
Bei meiner Arbeit begegnete ich tagtäglich vielen, beschäftigten Anzugträgern (die mich vom Auftritt her stark an Sebastian erinnerten), aber auch interessanten und ziemlich außergewöhnlichen Persönlichkeiten, wozu definitiv Susan gehörte. Das Mädchen, der ich diese Stelle zu verdanke habe. Susan war das absolute Gegenteil der sonst so glattgestriegelten, vornehmen Engländerinnen. Sie orientierte sich am koreanischen Stil und stand total auf K-Pop und Cosplay. Das zeigte sie auch. Ihre Kostüme waren bunt, waghalsig und immer over the top. Und ich liebte die Art, wie sie einfach einen Scheiß darauf gab, was andere von ihr dachten. Als wir uns eines Nachmittags zum gemütlichen Plausch trafen, weihte ich sie grob in meine derzeitigen Umstände ein und erzählte ihr, was mich genau zu meiner Tour bewegte. Dabei gab sie mir eine Weisheit auf den Weg, die ich gerne wiederholte und mir zusprach, wenn ich in meinem Hotelzimmer saß, über die Dächer von Westminster blicken konnte und grübelte.

„Das Schicksal mischt die Karten und wir spielen."

Wie recht sie damit hatte, auch wenn es ursprünglich von einem deutschen Philosophen stammte. Einfach diese Worte von Susan zu hören wirkte kraftvoll. Vor ein paar Monaten noch hätte ich niemals gedacht – nicht einmal geahnt -, dass es heute so sein würde, wie es jetzt ist. Dass ich mein Leben umkrempele und etwas wie einen Neustart wage. Nur, weil eine Karte mir kurzzeitig das Spiel verdorben hat. Zum Glück weiß ich jetzt, wie es sich lohnt den Joker einzusetzen. Ich habe gelernt zu spielen.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt