22. Kapitel

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9 Tage zuvor
Die Anspannung der letzten Nacht fiel von mir ab, als ich mit einer Nachricht von Alex in den Tag startete.

Von: Alex
So, alles geklärt. Er wird dich ab sofort in Ruhe lassen. Ich denke, ich war deutlich genug. Ich wünsche dir einen schönen Tag & pass auf, dass du nicht wieder einen Fußgänger umrennst!

Ich ging davon aus, dass er Sebastian von unserer Bekanntschaft berichtet hatte. Doch inwiefern wurde er deutlich? Hatte er wieder einmal zugegeben, dass ich ihm gehörte und er nicht gerne teilte? Eine schöne Vorstellung angesichts der Tatsache, dass ich dachte es wäre (wieder einmal) vorbei. Und als ich das Kalenderblatt umschlug wurde mir klar, dass es nur noch unglaubliche 144 Stunden waren.

6 Tage zuvor
Ich machte mich an diesem Samstagmorgen auf den Weg zur Uni, um zum einem zu lernen und um außerdem meine Urlaubsbeantragung genehmigen zu lassen. Da ich mich auf meinen lieben Herrn Krevitz konzentrieren wollte, nahm ich mir für die nächste Woche frei. Beziehungsweise war dies mein Plan und ich hoffte, dass die Sekretärin mir keinen Strich durch die Rechnung ziehen würde.
Der Papierkram war schnell erledigt und ich wurde für sieben Tage befreit. In dem Zeitraum, indem ich Alex also nicht sehen würde, hätte ich ausnahmsweise wieder einmal Zeit ganz für mich allein. Ich war zwar nicht so der Einzelgänger wie er, aber genoss ab und zu schon die Einsamkeit.
„Haben Sie vielen Dank! Schönes Wochenende!", verabschiedete ich mich.
Ich steckte die Formulare in meine Tasche und ging. Pling.

An: Alex
Alles erledigt. Kannst du mir sagen, wann du ankommst?

Von: Alex
Ich komme um 15Uhr an und nehme die Fähre zurück um Mitternacht.

An: Alex
Du nimmst über zwanzig Stunden Reise auf dich, um nicht einmal die Hälfte davon mit mir zu verbringen?

Von: Alex
Mehr ist nicht drin, sorry. Aber ich hab ein wunderschönes Ferienhaus für dich ausgeschaut, wenn du nach Brighton kommst!

An: Alex
Perfekt, also habe ich doch noch länger was von dir, hihi!

Meine Vorfreude war schon wieder nicht in Worte zu fassen. In meinem Kopf erstellte ich eine Checklist, was bis zu seiner Ankunft noch getan werden musste. Am Tag vorher sollte ich duschen und Haare waschen. Ne Packung könnte ich mir auch noch genehmigen. Und ich musste auf jeden Fall Pfefferminzkaugummi kaufen – wer weiß schon was passieren kann! Ich machte mich daher auf den Weg zur nächstgelegenen Drogerie um die ein oder andere Kleinigkeit zu besorgen.
Es landeten sämtliche Haarkuren und Gesichtsmasken in meinem Einkaufskorb. Außerdem neues Duschgel, Lippenstift und größtenteils all das, wo ich dachte, dass Alex es mögen könnte. Auch eine Flasche Rotwein durfte nicht fehlen. Es wäre zu lustig, wenn er auch solch einen Fleck auf meiner Wand hinterlassen würde, wie seine Schwester es bei ihm tat. Schließlich sah meine Wohnung bisher noch sehr kahl aus. Nachdem ich an der Kasse bezahlt und alle Einkäufe verstaut hatte, wurde mir bewusst, dass ich mich selbst noch gar nicht um jeglichen Transport nach und von Brighton gekümmert hatte.
Fähre oder Flugzeug? Finanziell blieb mir nichts anderes übrig als ebenfalls die Fähre zu nehmen. Ich machte mich also auf zum Hamburger Hafen und klopfte an das Hafenbüro, in der Hoffnung, jemand könnte mir weiterhelfen.
„Aj!", hörte ich jemanden von drinnen rufen.
Ich trat vorsichtig ein und mir schlug eine dichte Rauchwolke entgegen. Ein dickbäuchiger Mann mit fetter Zigarre im Mundwinkel, schaute mir über seine breiten Brillengläser entgegen.
„Wie kann ich Ihnen helfen, junges Fräulein?", fragte er und nahm seine Füße vom Schreibtisch.
„Ich – ehm – ich wollte mich nach Fähren erkundigen, die am 4. März nach Brighton fahren würden?"
„Na, da wollen 'wa mal sehen.", sagte er und bot mir den alten Stuhl (vermutlich aus den 70ern) vor ihm an.
Ich nahm Platz und beobachtete, wie er sämtliche Akten und Abfahrtspläne durchforstete. Seine Augen ratterten über das Papier und ich war erstaunt, wie schnell er jedes einzelne Blatt inspizieren konnte. Das Büro war klein und obwohl es am helllichten Tag war erstaunlich dunkel. Nur eine mickrige Schreibtischlampe spendete ein wenig Licht, damit der Hafenmeister vermutlich überhaupt etwas lesen konnte.
„Da hätten wir die Einzige um vier Uhr nachts."
Ich fackelte nicht lange und stimmte zu. Der Preis war akzeptabel, wenn man bedenkt, dass Alex um weiten mehr wert ist, als irgendein Fährenticket.
„Hätten Sie auch eine Rückreise parat?", wollte ich außerdem wissen.
„Nee, also da müssten 'se sich schon nochmal vor Ort informieren, wenn 'se abreisen möchten. Das variiert ganz stark, entschuldigen 'se!"
Ich mochte seine lockere Art. Endlich mal nicht so ein Spießer.
„Kein Problem, danke vielmals!", sagte ich, nahm mein Ticket entgegen und schloss die Tür hinter mir.
Endlich wieder frische Luft! Ich dachte wirklich, ich müsste da drin ersticken.

4 Tage zuvor
Morgen war es so weit. Ich würde Alex endlich sehen. Am Wochenende habe ich mir über die einen oder anderen Dinge Gedanken gemacht. Besonders habe ich dabei an die Zukunft gedacht und wie vor allem unsere erste Begegnung ablaufen wird. Geben wir uns die Hand? Fallen wir uns in die Arme? Oder ist jeglicher Körperkontakt überhaupt schon angebracht? Wie reagiert er wenn er mich sieht? Wie reagiere ich? Und was zur Hölle sollte ich bloß anziehen?!
Ich begab mich zu meinem Kleiderschrank und schaute durch die sämtlichen Bügel und Regalbretter. Nichts, womit ich ihn eventuell vom Hocker reißen könnte. Ich kramte zuerst eine weiße Bluse hervor, die am Dekolleté mit großen Rüschen besetzt war. Sie sah sehr feminin und ordentlich aus, jedoch war sie - für meinen Geschmack - etwas zu schick und somit unangebracht. Danach zog ich einen dunkelblauen Hoodie mit Kapuze aus der hintersten Ecke des untersten Faches. Dieser wäre super bequem und lässig, jedoch ebenfalls nicht unbedingt das Wahre. Vielleicht sollte ich morgen auf mein Gefühl achten und dann spontan entscheiden, wie ich mich für ihn zurecht machen würde. Ich wollte ihn unbedingt beeindrucken. Schließlich ist der erste Eindruck der Wichtigste.
Nachdem ich ein langes Bad mit einem guten Buch genossen hatte und meine Nervosität dennoch nicht weniger wurde, beschloss ich Annika anzurufen.
"Hallo?", meldete sie sich zu Wort.
"Hey, hier ist Fine."
Kurzer Smalltalk und ich kam auch schon zur Sache.
"Es geht um Alex."
"Mein Lieblingsthema! Erzähl!", forderte sie mich auf und ich atmete hörbar aus.
"Wir treffen uns morgen, hab ich dir das schon erzählt?"
"Was?! Nein! Wieso sagst du mir das erst jetzt?!", rief sie entsetzt und ich konnte mir einen Lacher nicht verkneifen.
"Das ist nicht lustig! Fine! Das ist ein gewaltiger Schritt in eurer Beziehung. Er kommt extra aus Brighton hier her?!",  erkundigte sich Annika und wirkte vollkommen fassungslos.
Ein Glück war sie genauso erstaunt wie ich darüber, was für eine lange Reise er auf sich nahm, nur um mich zu sehen. Ich erzählte ihr kurz und knapp, wie der morgige Nachmittag ablaufen wird und kam dann zu meinem eigentlichen Grund zurück, weshalb ich anrief - wie sollte ich mich morgen verhalten?
"Sei einfach du selbst!", platzte es aus ihr heraus. "Verstell dich auf keinen Fall, nur weil du ihm gefallen willst. Alex mag dich wirklich, du musst nichts anders machen."
Ich nagte auf meiner Unterlippe und ließ mir ihren Rat durch den Kopf gehen.
"Weißt du wie peinlich und tollpatschig ich sein kann? Gib mir ein Fettnäpfchen und ich nutze es definitiv aus!"
Annika fing an zu lachen, so wie ich.
"Aber genau das lieben deine Freunde an dir! Du bist einfach Josefine. Authentisch und ehrlich - jemand, auf den man sich verlassen kann und trotzdem für jeden Spaß zu haben ist."
Ich fing automatisch an zu lächeln. Komplimente von langjährigen Freunden sind doch immer irgendwie die Schönsten.
"Dankeschön. Ich fühl mich schon etwas besser."
"Ich muss jetzt auch schon wieder Schluss machen, Julian steht vor der Tür. Falls noch was ist dann melde dich einfach per SMS bei mir, ok?"
"Ja, mach ich. Bis dann!", verabschiedete ich mich und Annika legte auf.

Es dämmerte bereits und ich ging in die Küche, um mir einen Kamillentee zu machen. Ende Februar war es immer noch unausstehlich kalt und ich erschauderte, als meine nackten Füße die kühlen Fließen berührten. Ich nahm die Teebeutel aus dem kleinen Schrank neben der Spüle, eine große Tasse und etwas Honig zum süßen. Als das Wasser zu kochen begann, zog sich mein Magen zusammen und ich verspürte eine gewisse Sehnsucht. Ich wusste, dass es sich nicht um Hunger handelte, weshalb ich nach meinem Handy  griff und den Messenger öffnete.

An: Alex
Na, schon schlafen? Musst ja früh aufstehen, hihi!

Von: Alex
...

Eine nichtssagende Nachricht, aber immerhin war er noch wach. Trotzdem antwortete er mit drei lächerlichen Punkten. Das hatte er bisher nur selten getan. Eigentlich ausschließlich dann, wenn ihm etwas unangenehm war. Irgendwas stimmte nicht. Ich goss meinen Tee auf und wollte gerade zurück in mein Schlafzimmer gehen. Pling.

Von: Alex
Das ist jetzt vielleicht spontan, aber ich glaube ich werde nicht kommen können.

Die volle Tasse rutschte mir aus der Hand, fiel zu Boden und zersprang dabei in tausend Teile - so wie mein Herz. Und trotzdem war es keine Überraschung.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt