24. Kapitel

276 15 5
                                    

3 Tage zuvor
Ich öffnete die Augen, schaute auf mein Handy und wusste, dass es heute endlich soweit war. Heute – um genau zu sein in nur wenigen Stunden - würde ich Alex endlich sehen. Obwohl ich mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht bin, freute ich mich ihn endlich in die Arme schließen zu können. Ihn spüren. Sein ebenmäßiges Gesicht bestaunen und sein Parfum wahrnehmen. All das würde heute geschehen. Bei dem Gedanken musste ich lächeln und ich stand auf um mein Schlafzimmerfenster zu öffnen. Die frische Luft tat gut, richtig erfrischend und befreiend. Mehrere Minuten stand ich vor dem geöffneten Fenster und genoss einfach die Stille, die noch in meiner Wohnung herrschte.
In Hamburg war es an diesem Dienstag ziemlich bewölkt und kalt und ich entschied daher, einen hochgeschlossenen grauen Pullover anzuziehen. Kombiniert mit einer dunklen Jeans und weißen Sneakers würde dieser bestimmt nicht allzu spießig aussehen. (Hoffentlich!) Ich ging ich rüber ins Badezimmer, dabei wieder einmal an der Kiste meiner Mutter vorbei. Würden Alex und ich diese wirklich heute zusammen öffnen? Zugegeben hatte ich irgendwie Angst davor. Ich wollte meine Mutter zwar nicht verdrängen, aber ich wusste wie tief der Schmerz bei mir saß und dass ich wieder in dieses schwarze Loch fallen würde, aus dem mich Alexander erst vor kurzem gerettet hat. Ohne ihn würde es mir definitiv nicht so gut gehen wie jetzt. Ich war ihm sehr dankbar dafür, dass er mich wieder so gut fühlen ließ. Als ich in den Spiegel schaute, blickte mir eine munter und fröhlich wirkende Fine entgegen. Lang ist es her, dass ich mich so gesehen habe. Ich könnte mich dran gewöhnen. Mit beiden Händen griff ich in meine zerzausten Haare, die aber trotzdem angenehm nach Vanille und Honig dufteten. Er hatte mir mal gesagt, dass es ihm gefiel, wenn ich meine Haare lockig trug. Also kramte ich meinen Lockenstab raus und fing an, Strähne für Strähne um das Eisen zu wickeln. Mühsam nahm meine Frisur Gestalt an, doch ich ließ mir sogar noch extra mehr Zeit, denn heute sollte alles perfekt sein. Heute wird mein Tag – unser Tag.
Nachdem ich meinen Kopf ausreichend behandelt hatte, versuchte ich mich an meinem Gesicht. Ein bisschen Mascara, ein dunkelbrauner, schimmernder Lidschatten mit einem leichten Lidstrich. Ich versuchte meine Augen so gut wie möglich zu betonen, da ich wusste, wie sehr Alex sie mochte. Puder für makellose Haut und fertig. Mehr nicht. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Auf dem Weg nach draußen, warf ich mir noch meinen Trenchcoat über (was auch sonst) und nahm eine Banane aus der Küche mit, damit ich nicht mit leerem Magen das Haus verließ. Ich hatte zwar keinen Hunger, da sich die altbekannten Schmetterlingsbauchkrämpfe wieder einmal anmeldeten, aber ich zwang mich wenigstens eine Kleinigkeit zu essen.

Die Bahn kam und ich nahm wieder einmal am Fenster Platz. Als ich mich hinsetzte baute sich eine gewisse Aufregung in mir auf. Sah ichgut genug aus? Hatte ich zu wenig Deo benutzt? Hatte ich eventuell sogar Mundgeruch? Ja, ich stresste ein bisschen rum, aber ich empfand es als in Ordnung – gerade, weil wir uns heute das erste Mal sahen. Ich stellte ihn mir genau vor. Vom Videochat konnte ich seine Größe zwar nie genau ausmachen, aber ich schätze ihn auf circa einen Meter achtzig. Wenn nicht sogar größer. Auf jeden Fall würde er größer sein als ich. Hamburger Hafen. Da war es. Die Fahrt ging schneller als gedacht. Ich stieg aus, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er noch nicht da war. Es war 15:15Uhr, vermutlich hatte seine Fähre Verspätung. Doch als ich meinen Kopf zur Seite drehte und geradewegs nach vorne schaute, sah ich ihn. Ich blieb ruckartig stehen. Er lehnte lässig am Geländer, das eine Bein angewinkelt und mit den Ellenbogen abgestützt. Wow. Er war so wunderschön. Alex trug, wie ich es prophezeit hatte, ein hellblaues Hemd mit einem grauen Pullover darüber. Die Lederjacke ließ ihn taff und selbstbewusst aussehen. Er sah mich nicht, also hatte ich genug Zeit ihn ausgiebig zu mustern. Wieder mal wow. Seine Haare wehten leicht im Hafenwind. Es war wie in einem Film und er war der Hauptdarsteller. Sehnsüchtig blickte er in die Ferne, beobachtete das Wasser und die großen Frachtschiffe, die sich bereitmachten um auf die großen Meere zu ziehen. Ich setzte mich langsam wieder in Bewegung und peilte ihn direkt an. Nur noch wenige Meter. Hundert. Neunzig. Achtzig. Mein Magen knurrte, zog sich zusammen, entkrampfte dann und hinterließ einen stechenden Schmerz. Sechzig. Fünfzig. Er musste meine Schritte gehört haben, denn er erkannte mich und kam mir langsam aber sicher entgegen. Alex setzte ein Lächeln auf, welches ich so schnell nicht mehr vergessen konnte. Sein Lächeln war zum dahin schmelzen, doch ich konzentrierte mich darauf weiter zu gehen. Vierzig. Ich konnte nicht anders – mein Gang beschleunigte sich, ich fing an zu laufen. Dreißig. Zwanzig. Zehn. Und dann endlich fielen wir uns zum allerersten Mal in die Arme. Alex drückte mich fest an sich und nutzte meinen Schwung, um uns beide zu drehen.
„Endlich.", murmelte er in meine Schulter hinein.
Nach etlichen Umdrehungen setzte er mich schließlich ab und schaute mich an. Und noch ein wow. Ich umarmte ihn erneut.
„Ich kann es nicht fassen, du bist hier!", jubelte ich und umarmte ihn ein drittes Mal.
„Du bist tatsächlich gekommen!"
„Natürlich, ich habe dir doch gesagt, dass ich kommen werde!", versicherte er mir und nahm meinen Kopf zwischen seine Hände.
Ich genoss jede einzelne Berührung von ihm – er war so herrlich warm. Wir beide standen wie angewurzelt vor diesem rostigen Geländer und sagten nichts. Wir sahen uns einfach nur an. Die Ruhe war schön und der Moment erst recht. Ich konnte noch gar nicht so richtig realisieren, dass Alexander gerade tatsächlich vor mir stand, geschweige denn, dass ich ihn soeben das erste Mal berührt hatte. Aus Internet wurde schlagartig Realität und man sah uns beiden an, dass wir gänzlich überfordert mit der Situation waren.
„Ich weiß überhaupt nicht was ich sagen soll.", sagte er schließlich und ich konnte ihn dabei beobachten, wie er versuchte seine Nervosität zu verstecken. Seine Augen flitzten hin und her. Von meiner Nase zu meinem rechten Auge, dann zum linken, danach wieder zur Nase und letztendlich starrte er nur noch auf meinen Mund. Auch Alex hatte einen wirklich schönen Mund. Einen Mund, den ich gerne küssen würde. Aber natürlich tat ich es nicht – nicht beim ersten Treffen und der erste Schritt sollte ihm gehören. Ganz die alte Schule.
„Wie war die Reise?", fragte ich ihn und er hielt weiterhin meine Hände fest in seinen.
„Lang. Aber nicht unbedingt anstrengend. Schließlich wusste ich ja, was mich hier erwarten würde."
Ich errötete und senkte meinen Blick.
„Hey Tomatenkopf, das war ein Kompliment.", lachte er und ich lachte mit ihm.
Unser Gelächter harmonierte wunderbar miteinander. War es übertrieben zu sagen, dass es wie eine Senate von Mozart klang? Ja, das wäre wohl einer zu viel des Guten. Als er so direkt vor mir stand bemerkte ich, dass er genau einen Kopf größer war als ich. Ich mochte dieses Größenverhältnis zwischen uns. Wieder einmal sahen wir uns einfach nur tief in die Augen und grinsten uns an.
„Was hast du heute vor mit mir?", wollte er dann wissen.
„Ehm...", stieß ich ratlos hervor. „Also wir könnten... ehm..."
„Lass mich raten – du hast nichts geplant?"
Ich nickte verlegen und Alex verzieh mir mit einem schiefen Lächeln.
„Wenn das so ist, dann möchte ich dir einen ganz besonderen Ort zeigen. Dort bin ich immer als kleines Kind hingegangen, wenn ich alleine sein wollte. Ist also eher ein Geheimnis, aber ich möchte es gerne mit dir teilen.", erzählte er mir.
Ich fühlte mich geschmeichelt.
„Na dann los!", forderte ich ihn auf und wir setzten uns in Bewegung.
Unsere Hände entfernten sich und schon bemerkte ich, wie sehr ich den Körperkontakt zwischen uns vermisste. Ich hakte mich also bei ihm ein und wir ließen den Hafen hinter uns.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt