45. Kapitel

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7 Monate danach
Wir schreiben den 02. Oktober 2016 und ich befinde mich am Ort des letzten Eintrages - Amsterdam.
Wie ich bereits einmal erwähnt hatte, hat meine Mutter hier ihren letzten Sommer verbracht, bevor sie endgültig in die Klinik kam. Kaum zu glauben, dass nun alles schon wieder vorüber ist.

Ich saß auf einer Bank am Rande der Straße und musterte die Kanäle und Wasserwege dieser schönen Stadt. Mich wunderte es nicht, dass meine Mutter ausgerechnet diesen Ort für ihren letzten Sommer ausgewählt hatte. Alles sah so friedlich aus. Heute war es ausnahmsweise trocken, obwohl es in den letzten Tagen geregnet hatte und der Himmel düster und grau über uns lag. Nun erstrahlte der Herbst in leuchtend, bunten Farben und die Blätter wehten im leichten Wind. Eine traumhafte Kulisse, von der ich mehrere Frequenzen für meinen letzten Videoclip filmte.
Die Reise würde hiernach enden. Ich konnte es immer noch nicht so ganz begreifen.

Am Nachmittag besuchte ich das Anne Frank Haus, erkundete die Grachten und schoss immer wieder ein paar Fotos von der schönen Architektur der Gebäude. Einige Teile der Stadt ähnelten dem britischen Stil wirklich sehr, was mir Amsterdam sofort sympathisch machte.

An: Annika
Ich fliege heute Abend zurück. Juhu, ich komme nach Hause! Ich denke ich werde gegen 23Uhr landen.

Ich leitete die Nachricht ebenfalls an Sebastian weiter. Annika sicherte mir zu, dass sie mich zur gegebenen Zeit am Hamburger Flughafen abholen würde. Sebastian sagte mir allerdings ab, da er auf einem wichtigen Lehrgang in Köln war und er erst am Montagmorgen zurück kommen würde. Dennoch versprach er mir, dass er mich danach sofort besuchen käme.
Ich ging im Kopf noch einmal durch, welche Vorbereitungen ich noch treffen müsste, bevor ich heute Abend zurückreiste. Meinen Koffer hatte ich aus Langeweile bereits gepackt und die Boardkarten hatte ich auf meinem Handy gespeichert. Das bedeutete, dass ich den letzten Tag in Ruhe ausklingen lassen könnte und ich mir keinerlei Sorgen machen musste.

Nach einem nicht allzu langen Restaurantaufenthalt (ein niedliches Stübchen in der Nähe vom Bloemenmarkt), beschloss ich noch einen allerletzten Spaziergang zu unternehmen, bevor ich zurück ins Hotel kehrte.
Ich lief am Wasser entlang und blickte zum Mond hinauf. Die bereits früh heran gebrochene Dunkelheit verlieh der Umgebung eine gewisse, magische Atmosphäre. Ich hatte gar keine große Angst hier allein unterwegs zu sein - irgendwie fühlte ich mich sicher.

Bis ich bemerkte, dass mich eine schwarze Gestalt verfolgte und schnellen Schrittes hinter mir her ging. Wir waren die einzigen Personen an diesem Kanal. Diese Menschenleere war für einen Sonntagabend nicht gerade untypisch, da ein Großteil der Bevölkerung morgen wieder zur Arbeit ginge.
Dann fing die Gestalt an zu laufen - also lief auch ich. Sollte ich Angst haben? Noch war ich einigermaßen gelassen. Doch die Schritte kamen allmählich näher. Mein Hintermann war deutlich athletischer und schneller als ich. Nun überkam mich doch ein wenig Panik. Die Verfolgungsjagd endete einige hundert Meter später. In mitten auf einer beleuchteten Brücke packte mich eine Hand am Unterarm und zog mich zurück. Als ich mich umdrehte und das Gesicht der fremden Person erkannte, konnte ich meinen Augen nicht trauen.

Er war es. Und dieses Mal träumte ich nicht. Ich war mir sicher, dass ich wach war. Und ich spürte seine Berührung. Ich wusste, dass er es sein musste.
Alexander Krevitz, der Mann, der vor sieben Monaten einfach so verschwand, stand nun in Fleisch und Blut und in voller Gestalt vor mir und hielt mich fest. Er war es! Alex! Er berührte mich! Er stand nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich war ihm so nah ... Als mein Gehirn endlich realisierte was abging, riss ich mich von ihm los. Ich war sprachlos. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn fassungslos anzustarren.
"Endlich habe ich dich gefunden. Ich habe dich überall gesucht!", jauchzte er.
Seine Stimme - natürlich unverändert. Der gleiche liebenswerte Klang. Es war wie Musik in meinen Ohren und ich zwang mich, ihm dennoch kein Lächeln zu schenken. Ich schüttelte verwirrt den Kopf.
"Du bist hier.", keuchte ich leise.
"Ja, wegen dir. Als du auf deinem Blog angekündigt hast, dass du in Amsterdam bist, musste ich zu dir."
"Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.", sagte ich stur und verzog dabei keine Miene.
Nur ein tiefes Entsetzen konnte man mir abgewinnen. Was bildete er sich ein? Einfach hier aufzukreuzen und zu glauben, alles wäre wieder in Ordnung? Die einfache, heile Welt, nach der er sich sehnte? Oh nein, so nicht.
"Was denkst du überhaupt wer du bist, hmh?", keifte ich und schubste ihn zurück.
"Hey, Finchen. Ich weiß, dass du wütend bist...-"
"Ich bin nicht dein Finchen!", kreischte ich, außer mir vor Wut.
"Beruhige dich bitte! Ich will es dir erklären!", flehte er, doch ich konnte mich nicht länger zurück halten.
"Perfekt! Sag mir, Alex, wo warst du, als ich im Gingerman auf dich gewartet habe? Wo warst du, als ich dich angerufen habe und versuchte dich irgendwie zu erreichen? Sag mir, wo warst du, als ich in deiner Wohnung war und nach dir rief? Als ich lauthals um dich weinte? Wo warst du die ganze Zeit?!"
Ich schrie ihn einfach nur noch an. Ich sah überhaupt keinen Sinn darin ruhig mit ihm zu sprechen - er hatte es nicht anders verdient.
"Ich war bei bei einem Einsatz.", sagte er kleinlaut. "Ich bin der Marine verpflichtet."
So, wie ich es bereits geahnt hatte.
"Achso! Und da denkst du, dass dies eine Rechtfertigung dafür ist, was du getan hast, ja?"
"Nein, natürlich nicht. Deshalb bin ich ja hier. Ich will mich bei dir entschuldigen."
"Findest du nicht, dass es dafür ein wenig spät ist?!", wollte ich wissen und hob genervt eine Augenbraue.
"Sag niemals nie!", versuchte Alex seinen Charme einzusetzen.
Leider gelang es ihm dieses Mal nicht.
"Spar dir deine dummen Sprüche, ehrlich."
"Es tut mir so Leid, Josefine."
Ich zuckte die Schultern.
"Schön. Einsicht. Sehr schön, Herr Krevitz. Welch eine Glanzleistung! Nur leider sieben verflixte Monate zu spät!", brüllte ich, woraufhin er erschrocken zurückwich.
"Fine, hör mir zu!"
"Ich will glaube ich überhaupt nicht hören, was du noch zu sagen hast. Du hast mir deutlich genug gezeigt, wie wenig ich dir bedeute."
Alexander atmete laut aus und fuhr sich durch sein mittelblondes, perfekt gestyltes Haar.
"Meine Güte, wie sehr ich mich doch in dir getäuscht habe, Alex. Traurig, dass ich so viel Zeit und Energie an dich verschwendet habe."
Er schaute verlegen zu Boden. Ihn trafen meine Worte anscheinend, was mich irgendwie erleichtere. Genau diese Reaktion hatte ich mir erhofft.
"Ich habe das für dich getan.", gestand er plötzlich.
"Was? Was hast du für mich getan?", fragte ich ungläubig nach und verschränkte die Arme vor meiner Brust.
"Ich habe es beendet. Das habe ich für dich getan. Damit es dir leichter fällt loszulassen.", erklärte er.
Was sollte das denn heißen? Ich konnte nichts anderes tun, als einfach nur wieder den Kopf zu schütteln.
"Ich dachte, dass wenn ich es schnell beende der Schmerz nicht so groß ist, als wenn ich noch länger gewartet hätte. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder mit meinen Kameraden losziehen müsste und wir noch weiter voneinander entfernt wären! Das mit uns - das hätte doch niemals richtig funktioniert, Fine."
"Was machst du dann hier? Ich will deine Entschuldigung nicht. Ich will auch deine beschissenen Erklärungen nicht! Du machst damit alles nur noch schlimmer!", maulte ich und spürte, wie mir die Tränen in den Augen standen.
Oh nein, bitte nicht weinen! Ich musste Stärke beweisen.
"Ich bin hier, weil ich nachgedacht habe. Ja, ich hatte Angst und ja ich war ein Feigling. Aber ich bereue meine Entscheidung. Ich hätte dich niemals gehen lassen dürfen."
Er nahm meine Hand und ich konnte mich seinem Griff nicht mehr so leicht entwinden wie vorhin.
"Ich konnte an nichts anderes denken, außer an dich. Ich habe mich verliebt in dich, Josefine und möchte wieder gut machen, was ich getan habe."
Ich schluckte. Alex gab seine Gefühle zu und ich wäre am liebsten dahingeschmolzen. Doch dann dachte ich an den Abend in Brighton und wie aufgelöst er mich zurückgelassen hatte. Allein er war der Grund, weswegen ich mich wiederfinden musste. Nur wegen ihm. Gleichzeitig hätte ich mich ohne ihn wohl niemals auf dieses Abenteuer eingelassen. Doch war dies ein Grund glücklich darüber zu sein?
"Du hast es also zu meinem Wohl getan.", fasste ich einen Gedanken.
Er nickte stumm.
"Nur hast du schon mal daran gedacht, einfach mit mir zu reden? Wir hätten eine Lösung gefunden! Scheiße, wusstest du denn nicht wie sehr ich dich liebte?", brüllte ich und nun konnte meine Tränen nicht noch länger zurückhalten.
"Du bist so ein mieses Arschloch! Ich habe all die Monate an mir gezweifelt und mir den Kopf darüber zerbrochen, wieso du mir nicht einmal eine Erklärung gegeben hast!"
"Ich konnte nicht. Ich wusste, wie es dich verletzen würde..."
"Denkst du so war es einfacher für mich? Ganz im Gegenteil! Dir fehlt die nötige Empathie, um dich in die Gefühle Anderer versetzen zu können. Dafür würdest du ein Herz benötigen - du bist eiskalt gegangen."
Er sah mich verzweifelt an und ich bemerkte, wie seine Augen glasig wurden daraufhin. Ich empfand kein Mitleid. Er hatte sich auch nicht um mich geschert. Auch, wenn er angeblich nur mein Bestes wollte.
"Fine, ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich hatte keine Ahnung, dass du solch tiefe Gefühle für mich entwickelt hast. Ich meine, es waren wie viele Wochen? Vier? Fünf?"
"Sechs. Sechs verdammte Wochen, in denen du mich um den Finger gewickelt und anschließend weggeworfen hast."
„Es tut mir so leid!"
„Super! Es freut mich, dass du eingesehen hast, was für ein mieses Arschloch du warst! Doch ich bekomme meine Zeit nicht mehr zurück. Nie wieder. Es ist wie es ist – es ist passiert und kann nicht wieder rückgängig gemacht werden!", versuchte ich es ihm klar zu machen.
„Alex, das war's. Du hast im März beschlossen zu gehen und ich habe es nach etlichen schlaflosen Nächten geschafft, damit abzuschließen."
„Nein, Josefine bitte!", schluchzte er. „Ich habe dich so unendlich vermisst. Frag Ethan! Er war schon genervt von...-"
„Das interessiert mich nicht.", unterbrach ich ihn mal wieder. „Du hast ebenfalls einen Scheiß darauf gegeben, wie es mir ging ohne dich. Verdammt, es gab nahezu keinen Moment, wo ich nicht an dich gedacht habe!"
„Es ging mir doch genauso! Bei allem was ich tat, egal wo ich auch war – du warst immer ein Teil von mir."
Alex blickte mich leidend an und ich unterdrückte nun doch ein Gefühl des Mitleids.
„Zunächst habe ich es versucht zu verdrängen und ja ich gebe zu, dass ich dich einfach wieder vergessen wollte.", fuhr er fort. „Aber ich habe mich geändert. Für dich, Fine."
Ich atmete schwer und mein Körper war in jeder Faser angespannt. Erst vor kurzem schien alles so zu werden, wie es früher einmal war. Ich hätte mein Leben weitergelebt – ohne ihn. Gerade kam ich einigermaßen auf meinen alten Weg zurück und wieder machte er alles kaputt. Dieser Mann machte mich verrückt. Alexander war der wohl komplizierteste Mensch, den ich kannte und dennoch liebte ich ihn. Meine Gefühle dürften nicht sein, aber wahre Liebe konnte man eben nicht aufhalten.
„Bitte, gib mir eine Chance. Ich verspreche dir, ich werde sie nicht vermasseln.", flehte er.
„Ich weiß, dass du es wieder tun wirst. Wenn es zu kompliziert wird gibst du auf."
„Nein! Ich liebe dich und möchte bei dir sein!"
„Du denkst also, ich tanze jetzt wieder nach deiner Nase und tue das was du möchtest, nur weil du dich nach all dieser Zeit nun bereit für mich fühlst?!", brüllte ich und sah ihn entsetzt an.
„Jetzt wird es einfacher. Versprochen."
„ Ich scheiß auf deine Versprechungen! Dir hätte von Anfang an klar sein müssen, dass es nicht leicht wird. Es lag doch auf der Hand, dass wir Kompromisse eingehen müssen, damit es funktioniert. So eine Entfernung ist nicht leicht, aber zu schaffen."
„Eben! Deswegen will ich es jetzt versuchen!"
Er zog mich näher an sich, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Ich spürte seinen Atem an meinem Mund.
„Du!", kreischte ich laut und stieß ihn mit aller Kraft von mir weg. „Du denkst das würde es ungeschehen machen! Ein paar nette Worte und eine Entschuldigung! Das ist nicht lache! Kannst du dir vorstellen, wie sehr du mich verletzt hast?!"
Er nickte stumm, ein wenig schockiert.
„Egal was die Zukunft bringt. Du hast mich gebrochen und das werde ich dir nie vergessen."
„Aber du kannst mir verzeihen?", hakte Alex nach.
„Ich kann nicht. Nicht einfach so."
„Was muss ich tun?! Ich tue alles für dich, Fine."
Er bettelte mich an. Er wollte mich wirklich und so sehr ich ihn auch wollte, konnte ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren ihm einfach so zu vergeben. Meine Mutter wäre enttäuscht von mir, wenn ich es täte. Ich ebenso. Ich würde meine Ehre verlieren.
„Vergiss mich.", antwortete ich.
Alexander schüttelte energisch den Kopf, doch ich beachtete es nicht.
„Vergiss mich einfach, so wie du es doch eh vorhattest."
„Nein. Fine, ich kann dich nicht vergessen! Ich habe es versucht und es nicht geschafft."
So wie ich. Unsere Gefühle waren unendlich.
„Auf Wiedersehen, Alex.", verabschiedete ich mich und drehte mich um.
Ich setzte mich langsam in Bewegung und blendete aus, was Alex mir danach noch hinterher rief. Meine Schritte wurden schneller, ich rannte davon und ließ ihn einsam auf dieser kleinen Brücke in Amsterdam zurück.

Ende.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt