44. Kapitel

172 10 0
                                    

5 Monate später
Nachdem ich die letzten Wochen in Brüssel, Antwerpen und Gent verbracht hatte und anschließend in die Schweiz gefahren bin, zog es mich doch wieder nach Frankreich. In Rouen besichtigte ich sämtliche Kirchen und Kathedralen. Obwohl ich mein ganzes Leben lang nicht an Religion und all diesen Kram geglaubt hatte, mochte ich den Frieden und die Gelassenheit, die diese Orte ausstrahlten. Oft saß ich auf den Bänken und starrte die prächtigen Wandgemälde oder die bunten, verzierten Fenster an. Manchmal sprachen Leute mit mir, die mir davon erzählten, weshalb sie dorthin kamen. Ein geliebter Verwandter ist gestorben, Krankheit, innere Unruhe. (Ich wunderte mich, dass ich all das überhaupt verstehen konnte, aber ich muss ehrlich zugeben, dass sich mein Französisch massiv verbessert hatte.) Es war der perfekte Ort um runterzukommen. Hier las ich oft. Klassiker von Brecht, Lessing und Mörike hatten es mir angetan, aber hauptsächlich las ich das Notizbuch meiner Mutter.

Wenige Tage später saß ich wieder auf einem Schiff und ich begab mich an den Ort zurück, den ich einst nie wieder sehen wollte. Oben an Deck brauste mir der kühle Sommerwind ins Gesicht und ich blinzelte in die Sonne hinein. Es war ein wunderschöner Nachmittag Anfang August und der Sommer zeigte sich in seiner vollen Güte. Der Ärmelkanal erstreckte sich vor mir und ich verlor mich darauf. Wie damals im März auch, lauschte ich den Klängen von Andreas Moe. Ocean. Ein wunderbarer Song, in dem so viele großartige Erinnerungen steckten.

"Truth will keep you away from me,
all the fair the dark can be the downfall.
It's our enemy."

Ich fühlte mich in die Vergangenheit zurück versetzt. Wenn ich in wenigen Minuten an Land treten würde, empfinge mich dort kein Alexander. Keine Umarmung. Kein Lächeln. Niemand der mir winkte und sich auf mich freute. Es tat weh, wieder nach Brighton zurück zu kehren.

Aber meine Mutter wollte es so und ich hielt es ebenfalls für eine recht gute Idee. Da ich letztes Mal gar nicht dazu kam, den Brighton Pier zu besuchen um dort in das bekannte Riesenrad zu steigen, würde ich dies wohl heute endlich tun.
Zunächst brachte ich mein Gepäck in ein kleines Hotel nahe der Küste. Ich meldete mich an der Rezeption und als wenn das Schicksal es nicht anders vorhergesehen hatte, stand Jane hinter dem Tresen und grinste mir entgegen.
„Good evening, Miss."
Jane wusste nicht wer ich bin, aber ihr frecher, schwarzer Bobhaarschnitt war nicht zu vergessen. Sie war es. Ich war mir zu hundert Prozent sicher. Für einen Augenblick fühlte ich mich nicht in der Lage zu sprechen. Nachdem ich meine Stimme wiedergefunden hatte, begrüßte ich sie ebenfalls und schob ihr die Buchungsbestätigung zu.
„How's Alexander going? I haven't heard about him for quite a while."
Mist. Sie war es also tatsächlich und erinnerte sich dazu noch an mich. Ein ausgesprochen gutes Gedächtnis für jemanden, der doch eigentlich mehrere hundert Gesichter pro Woche zu Gesicht bekam. Ich zuckte unwissend mit den Schultern und versuchte ihrem scharfen Blick auszuweichen.
„Double room? Does he come over tonight?", fragte sie, als sie sich meine Buchung genauer ansah.
„No.", gab ich schnippisch zurück.
Ich wollte nicht mit ihr darüber sprechen. Hatte sie denn nicht mitbekommen, wie ich bei unserer letzten Begegnung weinend das Hotel verlassen hatte? Wohl doch ein wenig vergesslich. Sie durchsuchte ihren Computer, tippte gelegentlich ein paar Daten in das System und gab mir danach endlich meinen Zimmerschlüssel.
„Have a nice day.", wünschte sie mir, doch ich zog schnell an ihr vorbei.

Es war komisch in solch einer direkten Weise mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Jane war aktive Teilhaberin des Geschehens und irgendwie hatte sie alles mitbekommen. Sie hatte Alexander gekannt, mich als seine Freundin bezeichnet und den weißen Karton mit dem traumhaften Kleid auf mein Zimmer gebracht. Sie hatte alles für ein wunderbares Wochenende vorbereitet, gesehen wie glücklich ich war. Und dann hat er alles zerstört. Jane war so freundlich zu mir, so als wäre nie etwas gewesen. Oder es war einfach ihr Job, jeden Gast mit Transparenz entgegen zu treten.
Ich breitete meine Sachen auf dem Bett aus und schnappte mir meine Zahnbürste und mein Waschgel, um mich noch ein wenig aufzufrischen, bevor ich zum Pier ging. Mein Outfit beließ ich bei einem weißen T-Shirt mit einer lockeren, dunkelgrauen Sweatshirtjacke darüber. Dazu eine langweiligen Jeans, weiße Sneakers und eine filigranen Kette mit Tropfenanhänger um den Hals. Bevor ich das Hotel verließ, steckte ich meine vordersten Haarsträhnen nach hinten, damit sie mir nicht ständig ins Gesicht wehten - der Küstenwind konnte nicht nur kalt, sondern auch ziemlich nervig sein.

Das Riesenrad leuchtete bereits, während die Sonne am Horizont über dem Meer unterging. Als ich die Gondel ganz oben zum Stillstand kam und die Menschenmassen unter mir wie kleine Spielfiguren aussahen, wurde mir bewusst, wie einfach das Leben doch sein könnte. Ich sollte mir nicht andauernd das Hirn zerfressen und über alles dreimal nachdenken. Ich dachte wahrlich viel zu viel nach, weshalb es kein Wunder war, dass ich so oft unter starken Kopfschmerzen litt. Wie sehr wünschte ich mir in diesem Moment eine Susan aus London an meine Seite, die mir wieder eine Lebensweisheit an den Kopf werfen würde. Aber brauchte ich das jetzt? Sah ich denn nicht, wie schön das Leben war? Ich war gesund, hatte die Möglichkeit zu reisen, meine Freiheit zu spüren und neue Dinge auszuprobieren. Dabei war ich an einem wunderschönen Ort, den ich nur abneigte, weil ich schlechte Erinnerungen damit verband. So ein Blödsinn. Ich schränkte mich selber ein und diese Tatsache war mit einer der Gründe, die mich so stark belasteten. Natürlich hatte ich ernsthafte Probleme, wie zum Beispiel Jura, womit ich nur schlecht zurechtkam. Aber ich habe diese Last abgeworfen und eingesehen, dass mich nichts und niemand aufhalten konnte glücklich zu sein. Wieso sollte ich nicht einfach auch Alex loswerden können, ohne dabei Reue zu verspüren? Er war fort – die besten Voraussetzungen um mit etwas abzuschließen. Ich würde ihn nie wieder sehen. Bedacht schloss ich die Augen, wobei sich das Riesenrad wieder in Gang setzte.

Ich stellte mir eine vollbeschriebene Tafel vor, welche ich verzweifelt ansah. In meiner rechten Hand befand sich ein Schwamm, in der linken ein Stück weiße Kreide. Die Tafel zeigte mir all die Dinge, die ich mit Alexander erlebt hatte oder mit ihm in Verbindung brachte. Wollte ich sie mit der Kreide etwa noch weiter ergänzen? Wollte ich das wirklich? Nein.
Ich hob meinen Arm und wischte alles fort. Es kam wieder eine blanke Oberfläche zum Vorschein – bereit dafür, neu beschrieben zu werden.

Die Gondel bremste ruckartig ab und ein Wärter forderte mich auf auszusteigen. Ehe ich den ersten Schritt nach draußen wagte, fasste ich einen wichtigen Entschluss.
Fine, es ist Zeit loszulassen.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt