37. Kapitel

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Der eisige Wind wehte in mein Gesicht, ließ meine Haare tanzen und meine Stirnpartie spannte wegen der Kälte. Die frische Luft tat richtig gut. Irgendwie bekam ich so wieder einen klareren Kopf und ich konnte mich ein wenig lockern. Doch dieses Gefühl von Entspannung dauerte nicht lange an.
Ich klingelte und der Öffner summte leise. Mit wenig Kraftaufwand drückte ich die Tür auf und stapfte die Treppen zu seiner Wohnung empor.
"Schön, dass du gekommen bist.", begrüßte mich Sebastian, der angespannt im Türrahmen stand. "Komm rein."
Er roch nach einer durchzechten Partynacht. Nach einer flüchtigen Umarmung schob ich mich an ihm vorbei, streifte meinen Mantel ab und hing meinen Schal über die Sofalehne. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, da die Erinnerung an diesen Ort - vor allem mit Sebastian - nicht gerade positiv war. Mein Blick wanderte zu der Wand neben dem Bücherregal, an die er mich damals gepresst hatte. Ich bekam eine leichte Gänsehaut dabei und zuckte schließlich zusammen, als er mich am Oberarm berührte und ich mich zu ihm umdrehte. Erst jetzt fiel mir auf, dass er unglaublich fahl und blass aussah. Seine Augenringe waren tatsächlich fast so schlimm wie meine und die schwache Mimik und Gestik konnten keine guten Nachrichten bedeuten.
"Er ist tot."
Ich sah ihn verdutzt an.
"Wer?"
"Georg. Ich habe gestern Morgen die Nachricht erhalten."
Daraufhin nahm ich ihn in den Arm und drückte ihn fest an mich. Ich wusste zwar, dass er nie ein wirklich gutes Verhältnis zu seinem Vater hatte, jedoch war er trotzdem noch ein Teil seiner Familie. Und diesen zu verlieren tut weh. Ich könnte ein Lied davon singen, wie sehr es schmerzt.
"Das tut mir so unendlich leid für dich, Sebastian."
Mit festen Händedruck rieb ich ihm über die Schultern.
"Du bist die einzige Person mit der ich darüber sprechen könnte. Du kanntest ihn.", sprach er.
Seine Augen wirkten glasig.
"Nun ja. ‚Kennen' wäre zu übertrieben. Ich habe ihm mal Blumen vorbeigebracht. Bevor er mich treffen konnte, war ich schon wieder verschwunden."
"Wegen Alexander?"
Ich erstarrte und nickte dann nahezu unmerklich. Anschließend schwieg ich nur.
"Wie war es eigentlich bei ihm?", hakte er dann nach.
Ich hielt immer noch dicht und sah ihn mit zusammengekniffenen Lippen an.
"Darüber sollten wir nicht sprechen.", bat ich ihn und zwang mich zu einem Lächeln.
Sebastian nahm meine Hand, führte mich zum Sofa und wir beide setzten uns. Wieder einmal träumte ich aus dem Fenster heraus und genoss den schönen Ausblick.
"- und ich möchte dass du mich begleitest."
Ich fuhr herum.
"Hä?"
"Oh, du bist so niedlich, wenn du keine Ahnung hast.", grinste er und sein Gesicht erweichte ein wenig.
"Tut mir Leid ich habe... - was hast du gesagt?"
"Seine Beerdigung ist morgen. Ich weiß es ist kurzfristig, aber ich würde mich freuen, wenn du mich begleiten würdest."
Ich starrte auf meine Knie und schnipste mir einen Fussel von der Jeans. Mit so einer Einladung hätte ich nicht gerechnet. Nein. Ich kann ihn nicht begleiten. Das geht nicht. Zumal seine und somit auch Alexanders Familie dort sein würde. Wenn nicht sogar Alex selbst! Ich hätte keine Ahnung, wie ich dann reagieren würde. So wie in meinem Traum liefe es definitiv nicht ab – so sehr sich mein Unterbewusstsein auch danach sehnte.
„Nein.", antwortete ich trocken, erschrocken darüber wie gefühlskalt ich ihm gegenüber war.
„Oh."
Ich sah wie er in sich zusammensackte und ich all seine Hoffnung zerstört hatte.
„Ach Mist.", seufzte ich. „Es ist nicht so, dass ich nicht möchte. Ich will mich nur nicht in eure Familienangelegenheiten einmischen."
„Eure? Es geht hier ausnahmsweise um mich."
„Ja, aber..-"
Vergeblich versuchte ich seine Hand zu nehmen und ihn zu beruhigen. Doch er stand auf, ging zur Kücheninsel und schenkte sich ein Glas Whiskey ein. Dieser verdammte Alkohol. Er nippte zweimal und griff sich anschließend aufgelöst in die Haare. Seine Geste ging in ein verzweifeltes Aufstützen auf den Tresen über.
„Ich verstehe, dass es dir um Alex geht.", stellte er fest und hob seinen Kopf. „Ich weiß nicht was er getan hat oder was zwischen euch vorgefallen ist, aber hör bitte für einen Moment lang auf egoistisch zu sein und denk an mich!"
Er sah mich ernst an und ich sagte nichts.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich brauche."
Sebastian hatte Recht. Ich dürfte ihn nicht hängen lassen, nur weil ich Angst davor hatte Alexander wiederzusehen. Obwohl man seine Aufforderung ebenfalls als egozentrisch bezeichnen könnte, hatte er dennoch recht. Daraufhin nickte ich.
„Aber will dich auch zu nichts zwingen! Du sollst dich nicht unwohl fühlen und... ich will nicht...", stammelte er und stütze sich wieder in seine flachen Hände.
Aus Angst, er könnte gleich wieder einen emotionalen Ausbruch erleiden, stand ich ruhig und bedacht auf – ich wollte ihn nicht verärgern, sodass er ausrasten könnte – und stellte mich gegenüber von ihm hin. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, doch ehe ich ihn berühren konnte sah er mich mit Tränen in den Augen an.
„Du bist die Einzige, die mich versteht! Du kennst mich. Besser als du denkst."
Ich erinnerte mich daran, wie Alex zu mir sagte, dass Sebastian krank sei und ich daraufhin feststellte, dass er einfach nur ein Mensch ist, der Nähe braucht. Ich könnte seine Heilung sein, wenn ich doch nur für ihn da sein würde. Ja, Fine, er braucht dich.
„Hey, ich werde mit dir hingehen."
„Ich zwinge dich doch nur!", sagte er mit deutlich gehobener Stimme.
„Nein!", versicherte ich ihm mit fester Stimme. „Du brauchst mich und ich will für dich da sein. Du hast Recht."
Sein Oberkörper bebte noch immer, doch er entkrampfte sich sichtbar und das weiße Hemd spannte nicht mehr über seinen Rückenmuskeln. Schließlich strich ich ihm beruhigend über die Wange, woraufhin er mich überrascht ansah. Noch nie zuvor hatte ich absichtlich sein Gesicht berührt.
„Ich werde da sein.", flüsterte ich.
Es war schön zu sehen, wie seine Augen zu strahlen begannen und sein erwärmendes Lächeln wieder da war. Also fing auch ich an zu lächeln und er strahlte über beide Ohren. Er kam zu mir herum, hob mich hoch und schleuderte mich durch den Raum. Sein Körper glühte. Lag es an mir? War ich zu schwer? Ich stieß einen kurzen Schrei aus und schlug ihm kichernd auf die Brust.
„Lass mich runter!", jammerte ich.
Sebastian lachte beherzt und setzte mich anschließend wieder auf dem Boden ab.
„Du bist wirklich die Beste, Fine."
Ich grinste zu ihm hoch und sah auf die Uhr.
„Entschuldige mich nun, aber ich glaube ich muss mich dann wohl auf eine Beerdigung vorbereiten gehen."
„Stimmt."
Er ging zur Garderobe und fummelte ein Portemonnaie aus seiner Manteltasche.
„Hier.", sagte er, als er mir einen Hunderteuroschein entgegenstreckte. „Hau sie alle um."
Ich wusste sofort, dass er meinen Versuch das Geld abzulehnen nicht akzeptieren und den Schein letztendlich doch irgendwie in meine Sachen schmuggeln würde. Daher nahm ich seine Geste dankend an.
„Und wann holst du mich ab?", fragte ich.
„Ich denke ich werde um elf Uhr bei dir sein. Morgens, versteht sich."
„Ach!", bemerkte ich und verdrehte gespielt die Augen.

Woher hatten die Krevitzs eigentlich so viel Geld? Sebastian sah man den Reichtum an. Anders konnte ich seine teuren Anzüge und seine wohlhabende Wohnung nicht erklären. Auch Georg war als begnadeter Innenarchitekt und Designer bekannt und ebenso in der obersten Schicht vertreten. Aber bei Alexander hätte ich nie gedacht, dass er so viel Geld besaß. Erst, als er mir Geld für das Taxi zum Belle Tout Lighthouse gab und mein Zimmer bezahlt hatte und mir sagte, dass er es sich leisten könnte. Ich würde ihn gerne dazu befragen, aber das war ja nun nicht mehr möglich.
Ich unternahm also einen Spaziergang in die Innenstadt. Zurück an der Alster bog ich, wie vor ein paar Monaten schon, in die Ferdinandstraße ein. Dieses Mal ging ich allerdings ganz zielstrebig auf die kleine Boutique zu und beschloss, Luzifer mal wieder einen Besuch abzustatten. Ursprünglich hätte ich noch eine Beerdigungsrobe zuhause, welche ich zu der meiner Mutter anhatte. Aber damit würde ich wohl nicht unbedingt die Gäste oder geschweige denn Sebastian (und Alex) beeindrucken.
„Das rote Kleid kommt nicht mehr rein, Liebes!, empfing er mich herzlich und rückte eine Schaufensterpuppe zurecht, an die er gerade ein Maßband hielt.
„Ich will das rote Kleid überhaupt nicht mehr.", entgegnete ich. „Ich hab es schon."
Luzifer ließ von der Puppe ab und sah mich schockiert an.
„Waaaas, wie ist das möglich?!"
Ich zuckte nur die Schultern und stellte meine Tasche neben dem runden Sitzhocker ab.
„Ich brauche deine Hilfe."
„Du weißt doch, dass ich dir immer zur Verfügung stehe!", verkündete und richtete sich stolz auf. „Was brauchst du nun? Ein Hochzeitskleid vielleicht?"
„Schön wär's. Leider das totale Gegenteil. Anlass ist eine Beerdigung."
Luzifer fasste sich ans Kinn und kaute dabei auf einem kurzen Bleistiftstummel herum.
„Dann wollen wir mal sehen!"
Er machte sich an die Kleiderstangen und holte selbst aus den tiefsten Tiefen des Lagers, welches sich hinter dem Kassenpodest befand, wundervolle Kreationen hervor. Danach winkte er mich in die Umkleide, zog den Vorhang zu und ließ mich eins nach dem Anderen anprobieren. Ich liebte sein ehrliches Wesen. So sagte er mir auch, dass ich in dem einen wie eine geplatzte Wurst und im anderen wie ein schwarzes Schaf aussah. Ich nahm es ihm nicht übel sondern genoss einfach seine heitere Gegenwart.
„Eins hab ich noch.", informierte er mich, als ich nach sechs Kleidern fast den Geist aufgegeben hatte.
Ich schlüpfte hinein, er zog den Reisverschluss hoch und es war wieder dieser Wow-Effekt, den ich mir gewünscht hatte. Das Kleid war nicht aufregend – um ehrlich zu sein war es bloß ein stinknormales Etuikleid. Es war schwarz und hochgeschlossen, ließ allerdings die Beine gut zur Geltung kommen. Der Stoff schmiegte sich meiner weiblichen Figur ausgezeichnet an und brachte meine Kurven zur Geltung. Ich war nicht unbedingt von unglaublichen Rundungen gesegnet, aber dieses Kleid ließ mich tatsächlich bombastisch aussehen. Luzifers Worte.
„Es ist immer wieder schön, wie du als Raupe hier rein kommst und als Schmetterling die Umkleide verlässt.", strahlte Luzifer über beide Ohren und klatschte zufrieden in die Hände.
„Du kannst aber auch übertreiben!", antwortete ich verlegen und drehte mich vorm Spiegel. „Wie viel?"
„Nimm es einfach mit. Ich schenke es dir, Herzchen.", bat er an.
„Oh nein, nein!", verweigerte ich und kramte das Schildchen aus dem Kragen, um den Preis sehen zu können. Hundert Euro. Passt perfekt in Sebastians und somit auch in mein Budget.
„Ich werde es wie jeder anderer Kunde auch zum regulären Preis kaufen.", sagte ich entschlossen, zog es aus und wechselte zurück in meine Jeans und den schwarzen Pullover, in dem ich gekommen war.
Er nahm das Kleid mit zur Kasse und ich bezahlte.
„Noch nie hat jemand solch ein Angebot abgelehnt. Ein ganz eigener Kopf also!"
„Das habe ich von meiner Mutter.", erklärte ich und erinnerte mich daran, dass zuhause noch eine Kiste auf mich wartete.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt