20. Kapitel

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„Das geht so nicht, Sebastian.", versuchte ich ihn loszuwerden.
Doch er ignorierte was ich sagte und nahm erneut meine Handgelenke um mich an sich zu ziehen. Ich konnte mich nicht mehr wehren und war seinem Griff nun vollständig unterlegen.
„Lass mich los!", befahl ich ihm ängstlich.
Es gefiel mir absolut nicht, wie er mich festhielt.
„Ich kann nicht mehr.", flüsterte er mir ins Ohr und ich bekam eine leichte Gänsehaut, als ich seinen warmen Atem spürte. „Ich muss dich jetzt einfach küssen."
Er lächelte verschmitzt und es widerte mich an. Nein, das war nicht richtig. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst um der Situation irgendwie zu entkommen. Mein erster Kuss sollte dem Richtigen gebühren und nicht ihm. Vor lauter Panik kniff ich meine Augen zusammen und fing an zu wimmern. Dabei lief mir eine Träne die Wange hinunter und schlagartig lockerte er seinen Händedruck.
„Was ist?", fragte er.
Sebastian schien nicht zu verstehen, dass ich tatsächlich Angst vor ihm hatte. Jedenfalls gerade. Ich drehte meinen Kopf zum Regal, sah wieder das Bild an und konzentrierte mich, nicht die Fassung zu verlieren. Wie sehr wünschte ich, Alexander würde mir jetzt zur Hilfe eilen und mich in den Arm nehmen. Er würde mich sicherlich vor seinem Bruder beschützen. So dominant und besitzergreifend hatte ich Sebastian zuvor noch nicht erlebt und er erschien mir völlig fremd, als ich ihm wieder in die Augen sah. Sein Blick war kalt. Steinhart und undurchdringlich. Er sah mich einfach nur an und wartete auf meine Antwort. Doch ich war sprachlos.
„Vergiss deinen Freund einfach. Nur für diesen einen Augenblick.."
„Ich habe keinen Freund!", platzte es dann aus mir heraus.
Er ließ mich los und schaute skeptisch.
„Wieso lügst du mich an?"
„Weil ich nicht wusste, wie ich dir sagen soll, dass ich Gefühle für jemand anderen habe!"
Meine Stimme klang brüchig und ich wusste, dass ich gleich in Tränen ausbrechen würde. Ich konnte meine Emotionen noch nie gut verstecken.
„Wer ist es?!"
„Kann ich dir nicht sagen."
„Sag schon!", brüllte er und kam noch näher.
Von Furcht gelähmt blieb ich wie angewurzelt stehen und rührte mich nicht. Er drückte mich an die Wand und schlug mit der flachen Hand dagegen. Er war wütend. Ich öffnete meine Augen und unterdrückte meine Verzweiflung. Unauffällig sah ich zum Couchtisch hinüber. Beide Gläser waren leer, aber er konnte unmöglich betrunken davon sein. Was würde er jetzt tun? Würde er mich als Nächstes schlagen? Eigentlich konnte ich ihm das nicht zutrauen, doch ich konnte ihn einfach nicht mehr einschätzen.
„Ich werde ihn finden und ihm deutlich machen, dass er dich nicht bekommen wird."
Ich schüttelte den Kopf, biss mir auf die Unterlippe und dann war es endgültig aus mit mir.
„Was zur Hölle ist nur los mit dir?! Wieso bist du so?! Das würde meine Gefühle auch nicht ändern!", schrie ich ihn an. „Ich hab mich vollkommen in dir getäuscht! Oh man du machst mich so sauer, Sebastian! Ich verstehe einfach nicht..-"
Er unterbrach mich, indem er seine Lippen fest auf meine presste. Es hatte ihn absolut nicht interessiert, dass ich soeben versucht hatte, ihm meine Abneigung zu erklären. Sein Kuss war unbeschreiblich. Es fühlte sich ungewohnt an und ich ekelte mich. Schlagartig stieß ich ihn von mir weg, wischte mit der Hand über meine Lippen und schob mich an ihm vorbei. Schnell griff ich meine Sachen, warf dabei die Gläser um und stürmte zur Tür. Sebastian versuchte mich noch zu erwischen, doch ich hatte bereits das Treppenhaus erreicht und war ihm einige Schritte voraus.
„Ich wollte das nicht!", rief er mir hinterher.
„Du bist so ein verdammtes Arschloch!", jammerte ich und lief davon.

Es war bereits spät und die finstere Nacht verunsicherte mich. Wo war ich überhaupt? Ich verlor für einen kurzen Moment die Orientierung und wusste nicht mehr weiter. Vollkommen fertig mit den Nerven sank ich auf den Asphalt, mit den Knien dicht an meinen Körper gezogen und weinte. Ich ließ das Horrorszenario von eben noch einmal Revue passieren und fragte mich, wie ich mich so in ihm irren konnte. Er war wie ausgewechselt. Diese Angst, die ich hatte. Kein Ausweg. Und dann der Kuss. Ich machte mir letztendlich doch wieder Vorwürfe. Hätte ich es verhindern können? Was wäre, wenn ich mich nicht mit ihm getroffen hätte? Pling.

Von: Alex
Noch wach?

Alex war die einzige Person, die ich in diesem Moment brauchte. Ich hätte auch gerne mit meiner Mutter oder vielleicht sogar mit Annika darüber gesprochen, aber mein Herz sagte mir instinktiv, dass er die bessere Wahl wäre.
„Hey!", sagte er fröhlich.
Seine Gegenwart erleichterte mich und ich atmete auf. Aber ich sagte nichts. Ich weinte einfach weiter.
„Oh Gott, was ist los? Wieso weinst du?!", fragte er verunsichert.
Ich blieb still und dachte nach.
„Erzähl mir einfach etwas Schönes.", bat ich in schließlich.
Er überlegte nicht lange.
„Schau mal. In wenigen Tagen werde ich am Hafen auf dich warten. Ich werde ein hellblaues Hemd tragen, weil ich weiß, dass es dir gefallen wird. Stell dir vor wie wunderbar der Moment sein wird, in dem wir uns das erste Mal sehen. Das erste Mal vereint."
Alex hielt kurz inne und wartete meine Reaktion ab, doch ich blieb nachwievor ruhig.
„Und dann lasse ich die nie mehr los, hast du verstanden? Bei mir bist du sicher und du brauchst dich vor nichts zu fürchten. Ich werde bei dir sein."
Ich lächelte in die Dunkelheit hinein und er fuhr fort.
„Hör zu – egal wer oder was auch immer dich zum Weinen gebracht hat – fokussiere dich einfach nur auf mich. Du machst mich glücklich und ich dich ebenfalls. Vergiss das nie, okay?"
„Danke.", antwortete ich heißer.
„Ich hasse es, wenn du traurig bist und ich nichts unternehmen kann."
„Du hast mehr als genug getan, wirklich.", versicherte ich ihm, doch er ließ nicht locker.
„Man, diese Entfernung pisst mich von Tag zu Tag mehr an.", sagte er dann.
„Die besten Menschen wohnen immer zu weit weg, das weißt du doch."
„Ja, leider."
Ein paar Autos fuhren an mir vorbei und Alex bemerkte, dass ich wohl nicht zuhause war.
„Wo bist du?"
„Ich weiß es um ehrlich zu sein nicht so wirklich."
„Okay, ich denke ich kenne mich noch ziemlich gut in Hamburg aus. Schick mir mal deinen Standort."
Ist ja nicht so, als würde ich auch schon mein ganzes Leben lang hier leben. Aber ich freute mich über seine Hilfsbereitschaft und öffnete Google Maps. Als ich sah wo ich mich befand, wusste ich eigentlich auch schon, wie ich wieder zu meiner Wohnung beziehungsweise zur nächsten U-Bahn Station finden würde. Trotzdem setzte ich eine Stecknadel und schickte ihm meine Koordinaten per SMS.
„Warte ich schaue mal wo du bist."
Nach wenigen Sekunden meldete er sich auch schon wieder zu Wort.
„Die Haltestelle ‚Hallerstraße' ist nur so um die 900 Meter von dir entfernt. Geh einfach bei der nächsten Kreuzung links und dann müsstest du es auch schon sehen.", erklärte er mir.
„Danke, hab ich auch eben gemerkt.", lachte ich und stand von dem kalten Fußweg auf.
„Ich wollte nur nett sein!", beschwerte er sich sarkastisch. „Aber immerhin lachst du wieder."
„Bleibst du dran?", fragte ich ihn und machte mich auf den Weg zur Bahn.
„Natürlich! Bis zu sicher zuhause angekommen bist."
Mein Bauch zog sich wieder zusammen und die Schmetterlinge tanzten vermutlich gerade Tango.
„Danke, ich mag es nicht nachts alleine rumzulaufen."
„Musst du auch nicht, ich bin ja bei dir.", sagte er und ich fing schon wieder an zu lächeln.

Auf meinem Weg drehte ich mich ab und zu nochmal um, da ich die Befürchtung hatte, dass Sebastian mir gefolgt sein könnte.(Vollkommener Unsinn, da ich ihn ja gesehen hätte, als ich vor seinem Haus saß) Doch weit und breit war niemand auf den Straßen. Es gab nur mich und Alex am Telefon. Er erzählte mir von seinem Tag und dass er heute einen Physical Fitness Test bestanden hatte. Kein Wunder, denn er war wirklich sehr sportlich, demnach was er mir von sich und seiner Freizeit immer so berichtete. Ab und zu könnte ich mir wirklich ein Beispiel an ihm nehmen.
Ich stieg in die Bahn ein und setzte mich neben eine freundlich wirkende, alte Dame am Fenster. Diese bot mir sogar einen Keks an, doch ich lehnte dankend ab. Es gab also doch noch gute Menschen. Schade, dass Sebastian keiner mehr von ihnen war. Ich krempelte meine Jackenärmel hoch und entblößte meine Handgelenke. Sie waren rot und sogar ein wenig angeschwollen, doch sie schmerzten nicht mehr. Nichtsdestotrotz erinnerten sie mich an ein Monster. Ein Monster, dessen Bruder einem Engel glich. Er jetzt bemerkte ich, dass Alex schon lange nichts mehr gesagt hatte.
„Bist du noch da?", wollte ich wissen.
Er räusperte sich. Ja, er war also noch dran.
„Mir ist eben was an deinem Standort aufgefallen.", sagte er danach.
Ich runzelte die Stirn und wusste nicht so Recht was er meinte.
„Wieso warst du vor Sebastians Haus?"

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt