14. Kapitel

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Sebastian kam aus der Herrentoilette heraus und steuerte wieder auf unseren Tisch zu. Er lächelte und setzte sich neben mich.
„Und – hab ich was verpasst?"
„Ne.", log ich.
Er nahm sein Telefon und öffnete wahrscheinlich gerade Alexanders Nachricht. Sollte ich nachfragen, ob es sich wirklich um seinen Bruder handelte? Hastig tippte er eine Antwort und steckte es wieder zurück in seine Jeans. Pling.
„Mit wem schreibst du?", wollte ich wissen.
Meine Neugier erstaunte ihn wohl ein wenig, da er seine Stirn kräuselte und mich eindringlich ansah. Angespannt wartete ich auf eine Antwort. Ich hoffte, dass meine Vermutung nicht stimmte.
„Mit niemand Besonderem."
Ich wusste, dass er mich anlog. Wie dreist.
„Aha.", kommentierte ich hölzern.
Ich suchte das Weite und ließ meinen Blick auf den Hamburger Hafen schweifen. Nicht mehr lange und ich würde endlich die Fähre nach Brighton nehmen. Pling. Mein Kopf schnellte herum und ich fixierte erneut Sebastians Handy. Wie gerne würde ich jetzt wissen, was Alex geschrieben hatte – auch, wenn es mich nichts anging.
„Anscheinend ist dieser Jemand ja wohl doch nicht so unwichtig.", sagte ich misstrauisch.
„Sorry, ich mache es gleich aus. Mein Bruder nervt gerade ein bisschen."
Nein, nein, nein! Unmöglich.
„Bruder? Du hast einen Bruder?", stotterte ich.
„Er ist nicht mein richtiger Bruder. Er ist mein Halbbruder."
Ich gab ihm ein Handzeichen, welches ihn aufforderte fortzufahren und weiter zu erzählen. Wieso hatte mir Alex nie von einem Halbbruder erzählt?
„Sein Name ist Alexander. Unser Vater Georg Krevitz, - du kennst ihn vielleicht als Markenzeichen der Innenarchitektur - hatte vor seiner Hochzeit mit Alexanders Mutter eine Affäre mit meiner. Da kam ich bei raus. Ein uneheliches Kind, daher auch der Name „Winkler". Und als es dann hieß, er könnte sich nicht um mich kümmern, da seine Frau ja bereits schon mit Clarissa schwanger war, brach er den Kontakt zu mir ab und ich wuchs ohne ihn auf."
In einem Punkt hatten wir also etwas gemeinsam.
„Oh.. und wie ist dein Verhältnis zu ihm heute?", hakte ich nach.
„Als mein Bruder vor ungefähr acht Jahren erfuhr, dass es mich gibt, nahm er Kontakt zu mir auf um mich kennenzulernen. Zu der Zeit war er noch in Hamburg, er war gerade siebzehn und verbrachte sehr viel Zeit mit mir. Wir gingen immer in dieses Café hier, wenn wir uns trafen. Deshalb habe ich dich auch hierher eingeladen – es hat sich über die Jahre einfach zu meinem Lieblingscafé entwickelt. Damals standen hier allerdings noch keine Computer rum. Wie dem auch sei verstanden wir uns wirklich gut und ich sah ihn wirklich wie meinen richtigen Bruder an. Das gefiel unserem Vater aber nicht. Er meinte, ich wäre ein Bastard, ungewollt und gehörte somit nicht zur Familie Krevitz. Alexander durfte mich nicht mehr sehen und als er dann zur Marine ging und nach Brighton versetzt wurde, wurde es immer schwieriger für uns beide den Kontakt aufrecht zu erhalten."
Er deutete auf mein Glas.
„Darf ich?", fragte er.
Ich nickte und schob ihn meine Limonade rüber. Nachdem er zwei Schlucke genommen hatte, erzählte er endlich weiter. Krass, dass Alex so etwas vor mir verheimlicht hatte. Ich war irgendwie enttäuscht.
„Du kannst dir also vorstellen, dass ich somit nicht so gut auf meinen Vater zu sprechen war. Schließlich hatte er mir einen bedeutenden Familienangehörigen vorenthalten. Als sich Alex dann aber vor zehn Tagen wieder bei mir meldete, um mir zu sagen, dass Georg im Krankenhaus läge, bat er mich mal nachzuforschen, wie es ihm ginge. Ich rief daraufhin im Marienkrankenhaus an und bekam die Information, dass er stabil sei und keinerlei Lebensgefahr mehr besteht. Natürlich informierte ich Alex sofort über seinen Zustand, welcher mir dann aber zu erkennen gab, dass ich nicht mehr von Nöten wäre und ‚eine gute Freundin' sich bereits um alles gekümmert hatte. Schön zu wissen, dass er irgendwelche Weiber über seine Familie stellte."
Autsch. Ich hätte ihm am liebsten eine geknallt. Wenn er wüsste, dass dieses „Weib" gerade vor ihm saß und zuhörte!
„So und jetzt will er doch wieder wissen, was mit Vater los ist. Und es nervt mich. Deswegen tut es mir Leid, wenn dich die Nachrichten gestört haben. Ich antworte ihm jetzt auch nicht mehr, immerhin bin ich für ihn sowieso nur noch das fünfte Rad am Wagen. Der Notnagel falls alle Stricke reißen. Er wird immer mehr wie Georg, kennt gar keine Werte mehr und sieht alles als so selbstverständlich an. Anstatt mal nachzufragen wie es mir geht..", beschwerte er sich.
„Hmh.", gab ich zurück. „Er meint das bestimmt nicht so. Ihm ist Familie schon wichtig, denke ich."
„Du kennst ihn nicht. Alex hat eine wirklich wandelbare Persönlichkeit, die nicht immer nachzuvollziehen ist."
Auch ich durfte diese Erfahrung bereits machen. Ich wusste also genau wovon er sprach. Jedoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass Alexander ein solch egoistisches Arschloch sein würde. Sebastian trank auch noch den Rest meines Getränkes aus, bezahlte dann und begleitete mich nach draußen.
„Es war wirklich schön mit dir, auch wenn ich die meiste Zeit nur von mir gesprochen habe. Werde ich dich wieder sehen?", fragte er flehend.
Ich überlegte kurz, wie ich ihm verdeutlichen konnte, dass ich keinerlei Interesse mehr an ihm hatte, nachdem herauskam, dass er der Halbbruder von Alex war.
„Natürlich, die nächste Vorlesung ist doch schon am Donnerstag. Also bis dann!"
Ein letztes Lächeln noch und ein verdutzter Sebastian, dem ich nun den Rücken zugewendet hatte.

Noch während ich auf dem Weg nachhause war, wählte ich Alexanders Nummer an. Zu meiner Verblüffung nahm er sogar ab.
„Hey, was gibt's? Schön, dass du dich meldest!"
„Möchtest du mir eventuell etwas erzählen?", spielte ich an.
„Hä?", sagte er verdutzt und lachte kurz auf.
"Du hast einen Halbbruder.", warf ich ein und es herrschte für einen kurzen Moment Ruhe in der Leitung.
„Hää, woher weißt du das?!"
Er wirkte entsetzt und überrascht. Kein Wunder, er fühlte sich also ertappt.
„Ich habe mich eben mit ihm getroffen.", erzählte ich. „Sebastian ist ein netter Kerl."
"Spionierst du mir jetzt etwa nach?!", unterstellte er mir und dieses Mal lag nicht mal ein Hauch von Ironie oder Sarkasmus in seiner Stimme.
„Was?! Nein!", konterte ich, doch dann war es schon zu spät.
Piep. Piep. Piep. Hatte er allen ernstes aufgelegt?! Was für eine Zicke er doch sein konnte. Anstatt reinen Tisch zu machen, dachte er nun ich würde versuchen, hinter seinem Rücken Informationen über ihn rauszukriegen. Hey, super! Gerade lief wieder alles gut. Und jetzt das. Ich war wütend. Wütend darüber, dass er so reagiert hatte und mir anscheinend nicht vertraute. Vielleicht dramatisierte ich auch nur die Situation, aber einfach abzublocken und auszuweichen, sobald es ‚brenzlig' wurde – solch eine Eigenschaft kannte ich gar nicht von ihm.

23 Tage zuvor
Den ganzen Tag über versuchte ich ihn zu erreichen und ihm zu erklären, dass ich ihn nicht ausspionieren wollte. Das mit Sebastian war wohl einfach nur ein Zufall, der mir zeigte, dass Alex immer und überall bei mir sein würde. So wie das Geschäftsessen. Alles nur Beweise, dass er und ich zusammengehörten – auch wenn sich das etwas merkwürdig anhörte.
Jeden Anruf, jede Nachricht, jeder Versuch mich bei ihm zu melden wurde abgelehnt. Ich hasste es, wenn Missverständnisse auftauchten. Mich plagte ein schlechtes Gewissen. Ich hätte ihn nicht so direkt damit konfrontieren, sondern langsam auf das Thema hinarbeiten sollen. Denn so wie es schien, war sein Halbbruder ein wunder Punkt bei ihm. Anders könnte ich mir seine Reaktion nicht erklären.

Am Nachmittag nahm ich mir vor, endlich meine Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen. Auch sie hatte ich in letzter Zeit sehr vernachlässigt. Wäre mein Bruder in Hamburg, dürfte er mich auf keinen Fall spontan besuchen kommen. Daniel hatte einen absoluten Putzfimmel und zusätzlich auch noch eine Hausstauballergie. Wenn ich also nicht wollte, dass er hier drin stirbt, musste ich wohl oder übel den Putzlappen zur Hand nehmen und sauber machen.
Die Küche, mein Zimmer und der Flur waren schnell erledigt, schließlich war meine Wohnung nicht allzu groß. Eher niedlich und kompakt. (So, wie es für einen Studenten eben üblich ist) Auf dem Weg ins Badezimmer fiel mir wieder einmal die Kiste meiner Mutter ins Auge. Ich hatte sie immer noch nicht angerührt oder überhaupt einmal rein gesehen. Nachdem ich den Anruf vom Krankenhaus erhielt, wurde mir der kleine Umzugskarton einfach in die Hand gedrückt, bevor ich nachhause fahren konnte, um zu trauern. Natürlich wollte ich wissen was drin ist, aber irgendwie war alles noch so frisch. Ich wusste genau, dass ich nicht damit zu recht kommen würde, wenn ich wieder ein nach ihr duftendes Oberteil in den Händen halten würde. Trotzdem hielt ich inne und hockte mich zu der Kiste hinunter. Lange starrte ich auf die braune Pappe und tat nichts. Nichts passierte – weder mit mir, noch mit dem Karton. Ich streckte meinen Arm aus und streichelte die raue Oberfläche. Tränen schossen in meine Augen und ich kniff sie zusammen, um einen Ausbruch zu verhindern. Kein Alex, dem ich jetzt meinen Frust von der Seele reden konnte. Ich vermisste ihn. Ich vermisste meine Mutter. Okay, tu es jetzt einfach. Dann hast du es geschafft und du kannst deine Mama wieder bei dir sein lassen. Ich griff zu, packte eine Lasche des Deckels und zog sie nach oben. Die Kiste endlich offen. Aber ich konnte mich nicht rühren. Ich war von meiner Angst gelähmt. Der Inhalt offenbarte sich nun direkt vor mir. Nur ein Blick und ich wüsste, was meine Mutter mir hinterlassen hatte. Pling.
Ich sprang auf, drückte den Deckel wieder zu und schob den Karton zurück in die Ecke. So, als wäre nichts passiert. Pling.
Mein Handy leuchtete auf. Ich öffnete den Posteingang und fand zwei neue Nachrichten vor. Eine von Sebastian. Und eine von Alex.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt