7. Kapitel

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Das kam plötzlich – ich wusste nicht so recht was ich nun tun sollte. Sollte ich annehmen? Oder vielleicht doch ablehnen? Schließlich könnte er auch ein Serienmörder sein, der seine Opfer im Internet um den Finger wickelt und anschließend heimsucht? Ja, ich bin völlig paranoid.
Accept videocall.

Und nun saß er dort. Zwar nur in meinem Bildschirm, aber er lächelte mir entgegen. Ich fühlte mich ihm so nahe - auch wenn knappe 754km momentan zwischen uns lagen.
„... Hallo, hast du mir zugehört?", fragte er.
Erst jetzt ist mir aufgefallen, dass er bereits mit mir gesprochen hatte. Ich hatte einfach ein Händchen für peinliche Situationen.
„Wie – was?! Hey, sorry ich hab völlig.. Was hast du gesagt?"
Ich stütze mein Kinn auf meine Hände und lauschte nun dem angenehmen Klang seiner Stimme. Alex hatte eine wirklich schöne Stimme. Nicht zu rau, nicht zu dunkel, aber auch nicht zu weiblich. Die perfekte Stimme eben.
„Ich habe nur gesagt, dass du live noch hübscher bist als auf deinem Profilbild.", gestand er und kratzte sich dabei am Hinterkopf.
Ob er wohl oft Komplimente machte? Meine Wangen erröteten und ich schaute lächelnd zu Boden. Hätte José mir so etwas Schmeichelhaftes gesagt, hätte ich ihm wahrscheinlich nur den Vogel gezeigt und es ignoriert. Bei ihm nahm ich es allerdings dankend an. Ich fing an zu kichern.
„Was ist? Warum lachst du? Habe ich noch Nutella am Kinn?", wollte er wissen.
„Quatsch!", grinste ich. „Ich bin nur gut drauf – da kommt das schon mal vor."
Der Klang von The Doors ließ mich glücklich stimmen.
„Gute Musikwahl!"
„Danke dir – spiele die Platte gerade auf dem Plattenspieler meines Großvaters. Funktioniert einwandfrei!", stieß er freudig hervor und klopfte stolz auf einen Gegenstand rechts neben ihm, der nicht im Video zu sehen war. In etwa eine Wolke machte sich vor der Kamera breit und er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Vielleicht sollte ich das Teil nur mal abstauben."
Wir beide fingen an zu lachen.

Ich beobachtete, wie Alexander sich nach links lehnte und einen Schluck aus einer weißen Porzellantasse nahm.
„Kaffee oder Teetrinker?"
„Absolut Team Kaffee!", antwortete er und nahm erneut einen Schluck.
Erst jetzt fiel mir die weiße Wand hinter ihm auf, an der sich nur vereinzelt ein paar Bilder von verschiedenen (ich vermutete französischen) Künstlern befanden, ein Regal mit diversen Büchern und Atlanten – ein riesengroßer, roter Fleck darunter. Okay, Moment mal. Was war das? Blut?! War er vielleicht doch ein kranker Psychiopath, der Frauen in seiner Wohnung ermordete? Ich schob diesen Einfall bei Seite und beschloss weniger Criminal Minds zu schauen - ein oder zwei Folgen weniger die Woche würden meinem Verstand wohl nicht schaden.
„Was ist da passiert?"
„Was meinst du?"
Ich deutete mit dem Zeigefinger in Richtung Wand und er drehte sich um.
„Ach, das! Nun ja, sagen wir es so. Clarissa war wirklich sehr, sehr – nun ja... „angeschwipst". Und da hat sie es halt nicht mehr so wirklich auf die Reihe bekommen, ordnungsgemäß einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dementsprechend ist sie gestolpert und der Inhalt des Weinglases, welches sie in ihrer Hand hielt, ist dann wohl oder übel auf der Wand gelandet. Teurer Rotwein aus Bordeaux, Jahrgang achtundvierzig. Aber der Abend war lustig!"
Doch die Wand interessierte mich auf einmal gar nicht mehr.
„Clarissa? Deine Freundin?", hakte ich nach.
Und er lachte einfach los, als hätte ich eben den besten Witz des Jahrtausends rausgehauen. Wusste überhaupt nicht, dass ich so ein Komiker bin!
Nachdem er sich wieder eingekriegt hatte und in der Lage war zu sprechen antwortete er: „Nein, nein! Clarissa ist meine Schwester. Wir haben den Abend vor ihrer Abreise nach Barcelona zusammen verbracht. Ist schon zwei Jahre her."
„Und du findest es nicht nötig, den Fleck eventuell mal zu entfernen beziehungsweise zu überstreichen?", wunderte ich mich und runzelte die Stirn.
„Das könnte ich nie!", fiel er aus allen Wolken. „In diesem Fleck stecken so wunderbare Erinnerungen mit meiner Familie, die könnte ich nicht einfach ‚überstreichen'. Immer wenn ich meine Wand betrachte fange ich an zu lächeln. Dieser nicht gerade schöne Fleck macht mich einfach glücklich."
Wow. Er war ein wirklich einzigartiger Mensch. Was er eben gesagt hatte war so unglaublich tiefgründig und wahr, dass ich mich tatsächlich anfing zu schämen, überhaupt nachgefragt zu haben.
„Tut mir Leid, ich wollte nicht - "
„Fine, hör bitte auf dich für alles zu entschuldigen!", unterbrach er mich.
„Ja, tut mir..", setzte ich an. „Oh man, das ist schwer! Ich hab das Gefühl ich sage und tue immer das Falsche zur falschen Zeit am falschen Ort."
„Du bist süß, aber hör sofort auf so zu denken. Weder eine Handlung, noch eine Person ist ‚falsch'", sagte er ruhig und fuhr sich durch seine (absolut makellosen und traumhaften) Haare. Meine Wangen spannten und ich glaubte, mittlerweile so rot wie eine Tomate zu sein.
„Ich mag die Art und Weise wie du denkst und dich dabei ausdrückst. Wirklich beeindruckend!", lobte ich ihn und er lächelte.
Wir beide lächelten. Und eine Zeit lang sagten wir gar nichts mehr, sondern wir starrten uns nur an und genossen die Stille. Es war eine angenehme Ruhe, keinerlei bedrückend oder komisch. Es gab also tatsächlich Menschen, mit denen man selbst solche Momente erleben konnte.
„Hast du einen Stift?", unterbrach er letztendlich die Stille.
„Ja."
„Hast du Papier?"
„Ja, Notizbuch halt."
„Notier dir meine Nummer."
Er fing an, mir seine Nummer zu diktieren und mit jeder weiteren Zahl, die ich auf den Zettel schrieb, schlug mein Herz schneller. Ich verschrieb mich einige Male oder verstand ihn nicht so ganz, aber er blieb geduldig und wiederholte die letzten Ziffern ein fünftes Mal.
„Hast du es jetzt endlich auf die Reihe bekommen, eine elfstellige Telefonnummer aufzuschreiben?", witzelte er anschließend und ich legte meinen Schreibkram beiseite.
„Werd jetzt ja nicht frech!"
„Und was wenn doch?"
„Dann.. - das überlege ich mir noch!"
„Bekomme ich denn auch noch deine Nummer oder nimmst du das Ruder jetzt in die Hand?!"
„Schönen Abend noch, Herr Krevitz!"
„Hey, warte mal! Du - "
Doch ich schnitt ihm das Wort ab, winkte in die Webcam, setzte das schadenfrohste Grinsen der Weltgeschichte auf und beendete das Gespräch.
Jetzt lag es an mir.
Ended videocall.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt