26. Kapitel

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Niemand von uns rührte sich. Wir saßen nebeneinander und schauten uns einfach nur an. Es war romantisch, besinnlich und doch aufregend zugleich. Zwischen uns war diese Spannung. Die Art von Spannung, bei der man bei jeglicher Berührung einen Stromschlag bekommen würde. Ich wollte nicht, dass dieser Tag endet. Dieser Moment. Diese "Sache" zwischen uns. Alex und ich. Balsam für meine Seele.
Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt. Würde er mich jetzt küssen, hätte er mein Herz in null Komma nichts für sich gewonnen. Die Umstände waren ideal, er müsste jetzt nur noch den ersten Schritt machen. Ich war felsenfest davon überzeugt ihn lenken zu lassen und hielt mich daher zurück - auch wenn es mir schwer fiel. Ginge es nach mir, wäre ich ihm heute wahrscheinlich bei der Begrüßung schon um den Hals gefallen. Aber immer sachte mit den jungen Pferden! Ich bemerkte wie Alexanders Hand meine Haare in Ruhe ließ und sich es auf meinem Knie gemütlich machte. Ein Impuls durchfuhr meinen Körper. Vom Oberschenkel in den Kopf und von da aus wieder zurück. In der Dunkelheit konnte ich seine Gesichtszüge nur vage ermitteln, aber ich wusste, dass er mit seinem Kopf ein bedeutsames Stück näher gekommen war. Sein heißer Atem verlieh mir eine Gänsehaut.

Jetzt. Jetzt war es soweit. Alex kam, mit jeder weiteren Minute die verging, ein kleines bisschen näher. Er würde mich nun definitiv küssen - das stand fest. Ich atmete tief durch meine Nase ein und versuchte cool zu bleiben. Bloß keine Nervosität zeigen. Bei der Vorstellung, wie seine Lippen gleich auf meine treffen würden, lief es mir heiß und kalt den Rücken hinunter.
Zugegeben ließ er sich jedoch ausgesprochen viel Zeit. Vielleicht war er auch einfach nur schüchtern, aber das war mir gegenüber bisher nie der Fall gewesen. Wir waren sehr offen miteinander und sprachen über alles und jeden. Keine Hemmungen. Bei ihm konnte ich mich frei fühlen und vor allem ich selbst sein. Denn er mochte mich so wie ich ihn mochte; mit all den Fehlern und Makeln. Alex atmete nun durch den Mund und er war erstaunlich dicht an meinem Gesicht. Sein Atem traf mein Kinn und er war daher in unmittelbarer Nähe. Jetzt. Bitte jetzt! Mach schon! Küss mich doch endlich! Ich schloss meine Augen und wartete sehnsüchtig.
Doch er benutze seinen Mund nur, um wieder ein Gespräch anzufangen.
"Wir sollten gehen.", wisperte er.
Ich riss meine Augen wieder auf und runzelte die Stirn.
"Hä?!"
War das sein Ernst? In diesem magischen Moment schlug er tatsächlich vor zu gehen. Krass. Und ich dachte nur ich hätte solch ein schlechtes Timing.
"Ich meine, wir haben nur noch fünf Stunden Zeit etwas zu unternehmen!", mahnte er und lehnte sich wieder zurück in seinen Sitz.
Die Spannung war zerstört, die Verbindung gerissen. Alex hatte soeben den perfekten Augenblick verpasst. Würde es heute noch so einen geben? Oder am Freitag? Ich bezweifelte es.
Mürrisch wandte auch ich mich von ihm ab und machte mich zum Aufbruch bereit. Während ich versuchte aufzustehen, stützte ich mich auf der Sessellehne ab, wobei Alex mein Handgelenk fest umklammerte. Der Griff erinnerte mich an den Abend mit Sebastian. Kein schöner Gedanke. Ich blickte fragend drein, woraufhin er mich durch seine blauen Augen erwartungsvoll ansah.
"Na komm, alter Mann. Hoch mit dir!", lachte ich und half ihm auf.
Vorsichtig tastete ich mich zur Flügeltür zurück, in der Hoffnung nicht auf der Treppe zu stolpern. Oben angekommen war der Eingangsbereich noch hell beleuchtet. Alex huschte an mir vorbei und betätigte den so gut wie einzigen Lichtschalter im Lichtspielhaus. Klick. Jetzt nicht mehr.

Als Alex und ich den ersten Schritt zurück nach draußen wagten, wurden wir von der eisigen Abendluft überrascht.
"Scheiße, ist das kalt!", maulte er und vergrub den Kopf in seinem Hemdkragen - soweit es ihm jedenfalls möglich war.
Er schloss die Tür ab, verstaute den Schlüssel wieder hinter dem Holz und nahm erneut meine Hand.
"Und was jetzt?", fragte ich und erwiderte seinen Händedruck.
"Zu dir?"
"Dein Wunsch sei mir Befehl."
Wir liefen zunächst ein kleines Stück zu Fuß. Anschließend nutzten wir die U-Bahn, um zu meiner Wohnung zu gelangen. Es dämmerte bereits. Während wir liefen und er über seine Kameraden lästerte, erhaschte ich einen schnellen Blick auf mein Handy. Ich hatte eine neue Nachricht.

Von: Sebastian
Hey, alles gut?

Nein, bitte nicht er. Nicht jetzt. Nicht beide Krevitzbrüder auf einmal. Ich hatte schon genug mit einem zu tun, der wohl oder übel ein absoluter Antiromantiker war, im Gegensatz zu Sebastian.
"Der schreibt dir noch?!"
Ich wandte mich zu Alex und bemerkte, dass er mich und mein Display beobachtet hatte.
"Gelegentlich.", sagte ich knapp und steckte mein Handy zurück in die Manteltasche.
Ich wollte jetzt ungern darüber diskutieren. Generell wollte ich nicht über seinen Halbbruder sprechen. Oder über irgendetwas, das mit Sebastian zu tun hatte. (Es sei denn, es handelte sich dabei um Alex)
"Ich tue jetzt mal so, als wäre mir das egal.", knurrte er.
Er war eifersüchtig. Irgendwie süß. Ich kuschelte mich an seinen Arm und sagte ihm, dass er sich keine Sorgen machen müsste. Daraufhin grinste er erleichtert. Ich mochte es, wenn er so glücklich aussah. Das war der Alex, in den ich mich verliebt hatte.
Wir bogen in meine Straße ein und steuerten auf mein Haus zu. Dann öffnete ich die Tür.
"So - jetzt heiße ich dich in meinem kleinen Reich willkommen.", lud ich ihn ein.
"Schick, schick!", sagte er anerkennend und zwinkerte mir dabei zu.
Alex zog seine Jacke aus, hängte sie an den Garderobenhaken neben der Tür und ging geradewegs in mein Schlafzimmer. Er fühlte sich anscheinend wie zuhause, denn er machte es sich schon auf meinem Bett bequem. Ich lehnte im Türrahmen und schaute ihn schmunzelnd an.
"Na, liegst du bequem?"
"Ja, alles gut danke! Könntest du mir was zu trinken holen?"
"Das hättest du wohl gerne! Schwing deinen Hintern selber hier her!", lachte ich.
Er setzte sich auf und warf mir wieder diesen typischen "Alexblick" zu. Leicht verzweifelt und trotzdem nachdenklich und konzentriert. Sein Blick war wieder so intensiv wie vorhin, allerdings spürte ich keine besondere Spannung mehr. Schade, dass er seine Chance vorhin nicht genutzt hatte. Alex begann zu schmollen. Ich prustete los und verdrehte dabei gleichzeitig die Augen.
"Ja gut, ok! Kaffee?!", rief ich, als ich mich bereits auf den Weg in die Küche machte.
"Mit Milch und Zucker!"
Wieder eine Gemeinsamkeit! Die Liste wurde von Tag zu Tag länger, was mich natürlich freute.

Ich stellte beide Tassen auf meinem Nachttisch ab.
"So bitteschön, der Herr!", sagte ich ironisch und sah ihn genervt dabei an.
"Du bist ein Schatz, Fine.", lobte er mich und rollte sich zu seinem Kaffee.
Er nahm einen Schluck - welchen er offensichtlich sehr genoss - und deutete auf den freien Platz neben sich.
"Komm!"
"Nö, also das musst du dir schon verdienen!", brüllte ich und lief zur anderen Ecke des Raumes.
Er sprang auf, rannte wie ein Shopaholic beim Sommerschlussverkauf auf mich zu und drückte mich gegen die Wand. Ich erlebte ein kurzes Flashback - der Moment, als Sebastian die Kontrolle verlor. Doch ich verdrängte diesen Gedanken sofort und schaltete zurück zur Realität.
Alex war mir wieder einmal extrem nahe. Es lagen nur wenige Zentimeter zwischen uns. (Wenige Zentimeter zu viel!) Aber nein, mein Lieber! Die Atmosphäre von vorhin wird es nicht wieder geben - du hast es verpeilt. Er blickte mich verlangend an. Und dann schlang er auch schon seine Arme um meine Hüfte, hob mich hoch und hiefte mich zum Bett zurück. Er legte mich sanft ab und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Gewonnen.", flüsterte er.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt