40. Kapitel

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"Hallo Mama,

ich habe mein Studium geschmissen. Zwei Monate vor dem eigentlichen Ziel habe ich alles weggeworfen, was du dir einst für mich erträumt hast. Ich wollte immer Richterin werden und über Gut und Böse entscheiden, da du meintest, ich könnte die Welt verändern. Doch du hast mich eines Besseren belehrt.

Ich werde verreisen. Für eine lange Zeit. Und in dieser Zeit werde ich mich selbst finden und neue Erfahrungen sammeln. Ich werde wachsen, lernen und mich weiterbilden - dafür werde ich kein Studium brauchen. Keine Professoren, die meinen, sie wüssten über alles und jeden im Saal bescheid.
Alles was ich nun brauche ist eine Auszeit und etwas Abwechslung. Es sind Dinge passiert, die mich aufgewühlt und traurig gemacht haben. Ich würde gerne ausführlich erzählen, was passiert ist, aber dazu bleibt mir momentan keine Zeit. Denn ich packe gerade meinen Koffer!
Ich fange an mit deinem ersten Eintrag und arbeite mich langsam aber sicher vor. Mit dem Geld und deinem Tagebuch hast du mir ein Abenteuer gegeben, das es sich zu bestreiten lohnt. Ich hätte ahnen müssen, dass du mit deinem letzten Rat an mich nicht nur meintest, dass ich alles aufschreiben soll, was mir passiert. Du wolltest, dass ich etwas aus meinem Leben mache. Du kennst mich besser als jeder andere. Verdammt, wieso habe ich das nicht vor früher kapiert?! 'Erlebe'. Natürlich, das werde ich. Und ja, ich werde dich nach wie vor stolz machen. Jura kann ich nachholen, doch meine Zeit schreitet voran. Ich will nichts verpassen und jede Sekunde leben, die mir gegeben wird. Du hast mir gezeigt, wie schön das Leben sein kann, wenn man es nur zulässt. Leider hat man es der besten Person die ich je kannte viel zu früh genommen.
Es hört sich an, wie ein Abschied, aber man weiß eben nie, wann das Ende naht. Die Demenz war das beste Beispiel dafür - niemand hätte damit gerechnet!

Mama, ich vermisse dich unendlich doll und hoffe du kannst es verstehen. Quatsch, ich weiß, dass du mich nachvollziehen kannst.

In Liebe,
Finchen"

6 Tage danach
Mit gepackten Taschen, einer großen Flasche Wasser und einem Flugticket in der Hand, stieg ich am nächsten Morgen in mein bestelltes Taxi ein. Während der Fahrt schlug ich die erste Seite auf und laß ihre Worte erneut durch. Eine Städtereise im Jahre 1983 nach Rom.
Ein schöner Start in ein hoffentlich neues Leben. Jedenfalls ein neues Kapitel. Endlich ging es wieder bergauf mit mir und ich lächelte zufrieden, als ich daran dachte, wie sich alles wieder zum Guten wendete. Ich würde mein Leben weiterleben und Alex dabei hoffentlich hinter mir lassen. Aber ich könnte natürlich nicht einfach so gehen - niemals würde ich meine Liebsten so sehr enttäuschen wie er es mit mir tat.
Ich flüchte nicht, sondern ich entfalte mich und jeder soll davon erfahren.
Um Abschied zu nehmen, bestellte ich Sebastian und Annika um zehn Uhr zum Flughafen.

In der Abflughalle angekommen stürmte Annika aufgeregt auf mich zu. Als sie meine Taschen sah fiel sie aus allen Wolken.
"Wo willst du denn damit hin?!", fragte sie entsetzt und nahm mich in die Arme.
"Warte, ich erkläre es gleich.", versprach ich.
Aus der anderen Richtung kam Sebastian, der einen Strauß mit weißen Rosen dabei hatte.
"Nein, du fängst bitte sofort an! Ich kann nicht glauben, dass ...-"
"Entschuldige die Verspätung, ich hab mich beeilt!", fiel ihr Sebastian ins Wort. "Hier für dich."
Er hielt mir die Blumen vor die Nase und ich nahm sie ihm dankend ab.
"Woher wusstest du..?"
"Wenn man zu einem Flughafen gerufen wird, kann man sich eigentlich schon denken, dass diejenige Person verreisen wird.", lachte er und ich stimmte ihm nickend zu.
"Was geht hier vor? Eine Erklärung bitte!"
Annika wirkte verzweifelt.
"Wie Sebastian schon richtig erkannt hat, werde ich weggehen.", fing ich an. "Ich werde keinen Urlaub machen oder so."
Nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, weiteten sich beider Augen.
"Bevor ihr mir davon abraten wollt - es ist schön zu spät. Ich werde für einen unbestimmten Zeitraum unterwegs sein und ich weiß nicht wann ich wieder zurück sein werde. Oder für wie lange."
"Du wanderst aus?!", hakte Annika dann ungläubig nach.
"Nicht direkt. Ich werde mich auf eine lange Reise begeben und sämtliche Teile der Erde bereisen. Jedenfalls die, über die meine Mutter geschrieben hat."
Ich hielt das Buch in die Höhe und ehe es mir jemand aus den Händen reißen konnte, steckte ich es zurück in meinem Rucksack.
"Du lebst dein Leben also nach einem blöden Tagebuch, ja?"
Annika zeigte bisher leider keinerlei Verständnis für das, was ich vorhatte.
"Ja, genauso ist es. Denn dieses blöde Tagebuch ist das einzige, was mich noch mit meiner Mutter verbindet. Ich möchte ihr wieder nahe sein, weil ich weiß, dass sie mir genug Kraft geben kann!", beteuerte ich mit erhobener Stimme.
Beruhigend strich mir Sebastian über meine freie Hand.
"Ich kann dich verstehen. Aber es ist natürlich in gewisser Weise ein Schock von deinen Plänen zu hören. Einfach, weil ich - beziehungsweise wir nicht wissen, wann du zurück sein wirst.", sprach er sanft und erntete Zustimmung von Annikas Seite.
"Ich weiß, ich weiß. Es kam auch alles ziemlich überstürzt und spontan. Aber ich will mich nicht mehr in Selbstmitleid vergraben. Ich habe es satt mich leer zu fühlen, nur weil ich geliebte Personen verloren habe."
"Wieso sprichst du plötzlich in der Mehrzahl? Was ist passiert?!", wollte Annika dann wissen.
Ich atmete tief ein und redete drauf los. Und ehe ich mich versah konnte ich den entscheidenden Punkt nicht erzählen, da es mir zu sehr schmerzte. Ich wollte nicht, dass die beiden erfuhren, wie sehr er mich gedemütigt hatte.
"... lange Rede, kurzer Sinn - Alex existiert nicht mehr für mich. Ende.", beendete ich meine Story.
Annika begann sofort sich lauthals darüber auszulassen, was für ein Arschloch er doch sei, schwieg Sebastian nur und schien für einen Moment in sich gekehrt. Vielleicht hatte er nicht geahnt, dass mir sein Halbbruder so viel bedeutet. Oder bedeutet hatte. Ich war mir dennoch nicht sicher. Ich liebte ihn trotzdem noch und mein Verstand sagte mir, dass dies absolut nicht richtig war. Hoffentlich bringt mich das Reisen auf andere Gedanken.
"Und wo geht es hin?", unterbrach Sebastian dann die Stille, um das Thema zu wechseln.
"Nach Rom. Vorerst. Mal sehen wie lange. Dann blättere ich um und schaue wo und wie die Reise weitergeht."
"Aber wie zur Hölle finanzierst du das alles? Ich erinnere mich an viele Verabredungen, an denen ich deine Drinks zahlen musste, weil du meintest du wärst pleite..?"
"Und ich versichere dir, dass ich das immer noch wäre, wenn meine Mutter nicht vorgesorgt hätte. Sobald ich wieder da bin, geht ein Abend vollkommen auf mich!", versicherte ich ihr und lachte.
"Och, du wirst mir fehlen!", jammerte sie danach. "Bitte melde dich bei mir! So oft es geht!"
"Klar! Ich halte dich auf dem Laufenden."
"Achja und ich möchte Bilder haben! Ganz viele!"
"Ich hab letztens so eine Art Videoblog im Internet gesehen. Habe schon überlegt sowas in der Art zu machen?"
"Ja, oh bitte, ja! Das wäre total cool! Dann ist es so als wärst du hier!", jubelte sie mir ins Ohr, als sie mich erneut umarmte.
"Gut, dann mache ich das.", sagte ich und schloss sie ebenfalls fest in meine Arme.
Für einen langen Moment verblieben wir in unserer Umarmung, bis ich bemerkte, dass Sebastian ja auch noch da war.
"Was ist mit dir?", wandte ich mich ihm zu.
Er sah vollkommen fertig aus. So wie vorgestern, als er über den Tod von Georg sprach.
"Ich werde dich sehen müssen.", brachte er dann schließlich heraus.
Ich hatte mittlerweile verstanden, dass ich sein Anker war. Dass ich sein Anhaltspunkt war, wenn es ihm schlecht ging und mir war klar, dass er so reagieren würde.
"Ich komme mit, Josefine.", stellte er trocken fest.
Damit hätte ich allerdings nicht gerechnet. Auch Annika runzelte verwundert die Stirn. Oh, wenn sie nur wüsste.
"Nein, Sebastian. Hör zu - ich muss das alleine machen. Wirklich. Es ist nicht so als würde ich dich nicht dabei haben wollen, aber ich brauche diese Zeit für mich."
Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich und er lockerte seine Krawatte an seinem Hals. Hatte ich ihn aus einer Vorlesung gerissen?
"Du kannst mich allerdings besuchen kommen, wenn du magst. Dann sage ich dir, wo ich bin und für wie lange und dann kommst du eben. Wenn es für dich möglich ist."
Er nickte deutlich und ich trat näher an ihn heran.
"Falls es schlimmer wird, dann ruf mich einfach an. Ich bin nicht weg! Ich bin nur vielleicht etwas weit entfernt. Aber ich bin trotzdem immer noch da für dich! Das verspreche ich dir, hoch und heilig und du kannst dich auf mein Wort verlassen, Sebastian. Mach dir keine Gedanken darüber, wie es sein wird, wenn ich nicht mehr zehn Minuten entfernt lebe. Freundschaft kennt keine Entfernung ...-"
Nachdem ich den letzten Satz ausgesprochen hatte, drehte er seinen Kopf weg und suchte mit seinen Augen das Weite. So, als wäre es ihm unangenehm, dass wir eben 'nur Freunde' waren. Ich wusste, dass er anders für mich empfand. Aber irgendetwas in mir konnte sich zur Zeit nicht auf ihn einlassen. Oder überhaupt. Ich wollte Alex. Nur bei ihm hatte ich mich je geborgen und wichtig gefühlt. Ich war bedeutend für ihn. Ich war.
Ehe ich in erneut in einem Gedankenstrom ertrank, schlang ich die Arme um Sebastian und lud anschließend auch noch Annika in die Umarmung ein.
"Ich wünsche euch alles Gute. Erzählt mir, was ich hier verpasse, ja?", sagte ich, die Tränen brannten mir bereits in den Augen.
Annika schniefte ebenfalls.
"Meine liebste Fine ...", seufzte sie. "Pass bloß auf dich auf!"
"Mach ich."
"Und keine Männer! Du hast ja gemerkt, was für elendige Schweine das sind!"
"Ja!", kicherte ich und schlug ihr sanft gegen den Oberarm.
Als ich sah, wie auch Sebastian zu weinen begann und ihm eine Träne die Wange runterzulaufen drohte, strich ich sie mit den Daumen fort.
"Shhhh - ich bin doch da. Ob in Rom oder sonst wo! Ich werde für dich da sein, so gut es geht."
Ein letztes Mal nahm ich ihn in die Arme und dieses Mal fühlte es sich tatsächlich wie ein Abschied an. Sebastian drückte mich fest an sich, seine kräftigen Arme um meine Taille gewunden, während meine um seinen Kopf geschlungen waren. Er atmete langsam und ungleichmäßig und ich wisperte ihm immer wieder beruhigende Worte ins Ohr.
"Ich würde dich nie so behandeln, wie Alex. Denk darüber nach.", sprach er mir zum Abschluss zu.
Ich löste mich von ihm, verstaute den Blumenstrauß in einer meiner Taschen und nahm diese in die Hände. Anschließend drehte ich mich um - schweren Herzens meine geliebte Heimatstadt zu verlassen, besonders alleine. Jetzt fängt ein neues Leben an.
Bevor ich zum Gepäckschalter und danach zur Sicherheitskontrolle ging, drehte ich mich noch einmal um und winkte meinen Freunden zufrieden zu. Dies waren also tatsächlich die einzigen Menschen, denen ich vertraute. Meine Freunde eben.
Annika - seit Tag eins war sie meine Nummer eins. Sie ist sowas wie eine beste Freundin für mich geworden und ich hätte oftmals nicht gewusst, was ich ohne sie getan hätte. Sie war diejenige, die mich immer wieder auf die richtige Bahn bringen konnte und mich aufgebaut hatte. Ich war ihr so dankbar. Für alles!
Und Sebastian - der Zufall und doch das Schicksal hatte uns zusammengeführt. Unsere Verbindung ist immer Alex gewesen, doch in den letzten Wochen ist er wirklich zu einer Person geworden, die ich nicht mehr missen wollte. Ich fühlte mich verantwortlich für ihn und er gab mir das Gefühl gebraucht zu werden. Manchmal fühlte ich mich wie ein Teil seiner Familie, den er nie hatte. Möglicherweise ist auch das der Grund, wieso ich mich nicht in ihn verlieben konnte. Sondern in Alex. Ich schüttelte den Gedanken von mir ab und nahm meinen Arm herunter.
Auf Wiedersehen, schönes Hamburg. Bis bald, geliebte Freunde und herzlich Willkommen neues Ich!

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt