21. Kapitel

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„Es ist nicht so wie du denkst.", sagte ich verzweifelt.
Ich wollte nicht, dass er sauer auf mich war. Jedenfalls nicht jetzt. So kurz vor unserem Treffen sollte nichts mehr schief gehen.
„Was denke ich denn?"
Alex war alles andere als begeistert. Er misstraute mir offensichtlich. Keine besonders guten Voraussetzungen.  Eine Durchsage ertönte, ich erhob mich von meinem Sitz und schritt Richtung Tür. Menschenmassen strömten in mich hinein und ich war überrascht, dass so viele um die Uhrzeit noch auf den Beinen waren. Als ich mich aus dem Gerangel befreit hatte und versuchte den Ausgang zu finden, sprach ich weiter.
„Ich.. – scheiße!", fluchte ich leise. „Ich kann es erklären."
Stille. Nur sein leises Atmen verriet mir, dass er nicht aufgelegt hatte.
„Bitte lass mich erklären!", flehte ich, nachdem er nicht mehr zu reden schien.
„Josefine, er ist mein Bruder.", sagte er monoton und ruhig.
„Ja, ich weiß das doch, verdammt! Es ist sehr kompliziert und.. – ach man!", jammerte ich und ich fing erneut an zu weinen.
„Hör auf zu weinen!", rief er und klang dabei sehr herrisch.
Fast so wie Sebastian.
„Kann ich aber nicht!", kreischte ich und ein Paar, welches an mir vorbei lief, drehte sich verstört zu mir um.
Ich schlug meine Hand gegen die Stirn und verkrampfte. Mein Kopf war das reinste Wirrwarr. Sebastian. Alex. Sebastian. Alex. Alex hasste mich. Ich hasste Sebastian. Nein, eigentlich mochte ich ihn. Aber das gefiel Alex nicht. Sebastian. Alex. Keine Kontrolle mehr über meine Gedanken.
„Komm runter! Ernsthaft, beruhig dich.", empfahl er mir, doch ich war alles andere als entspannt.
„Du hast keine Ahnung was passiert ist! Ich.. – ich weiß nicht..", stotterte ich.
Ich sah mich nicht mehr in der Lage zu sprechen, da ich nicht wusste wie oder wo ich überhaupt anfangen sollte.
„Warte mal – ist er der Grund wieso du weinst?", wollte er wissen und er klang sehr besorgt als er danach fragte.
Ich schluchzte und lief dabei vollkommen planlos durch meine Nachbarschaft.
„Fine, ich bin nicht sauer auf dich oder so.", versuchte er mich zu besänftigen. „Ich frag mich nur was du bei ihm zu suchen hattest, ehrlich."
Meinte er das Ernst? Oder sagte er das nur um mich zum Reden zu bringen und damit ich mir keine Sorgen mehr machen musste?
„Langsam.", rat Alex mir.
Mein Wohnblock kam näher und ich freute mich bald endlich wieder in meinen vertrauten vier Wänden zu sein.
„Ich rufe dich zurück.", krächzte ich und kramte den Hausschlüssel aus meiner Jackentasche.
„Nein, ich warte."

Die Tür sprang auf, als das Schloss klickte. Ich ging geradewegs zu meinem Bett und warf mich darauf. Die letzten Tränen liefen mein Gesicht hinunter und ich zog zweimal die Nase hoch, um sicher zu gehen, dass ich normal atmen konnte. Wieso war ich nur so ungeheuerlich emotional? Ich hasste es, wenn mich jemand so schwach und zerbrechlich sah. Oder in seinem Fall eben hörte. Eigentlich wollte ich doch „stark" sein. Aber nicht bei Alex. Bei ihm ging mir alles so nah, meine Gefühle spielten verrückt. Sie explodierten regelrecht. Ich hatte so schreckliche Angst ihn zu verlieren. Unter anderem weil er schon so oft alles in Frage gestellt hatte. Aber wieso sollte er mich verlassen, weil ich mich vor seinem Halbbruder gefürchtet hatte? Schließlich hing das ja nicht mit mir als Person zusammen – oder vielleicht doch? Ich wusste, dass die Sache mit Sebastian keine gute Idee war. Von Anfang schon nicht. Aber wie das Schicksal und mein Pech es eben so wollte, musste ich natürlich ausgerechnet in diese Zwickmühle geraten.
„Okay.", fing ich an. „Du weißt ja bereits wie Sebastian und ich uns kennengelernt haben. Und du weißt auch, dass er Interesse an mir hatte. Aber es kam schlimmer, als ich zu Anfang dachte. Er scheint wirklich Gefühle für mich entwickelt zu haben. Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt, doch ich musste ihm klar machen, dass ich nicht so fühlte wie er. Also ignorierte ich ihn für gut eine Woche. Doch als er plötzlich vor meiner Haustür stand und mir Blumen mitgebracht hatte, wusste ich nicht mehr weiter und log ihn daher an, dass ich einen Freund hätte. Ich wusste, dass ich ihn damit verletzen würde, doch das war mir für einen kurzen Moment egal, da ich ihn einfach nur loswerden wollte. Meine Schuldgefühle ließen es jedoch nicht zu, dass mich die Sache kalt ließ. Ich versuchte ihn also zu erreichen, doch er reagierte nicht mehr."
Alexander hörte gespannt zu und er unterbrach mich kein einziges Mal. Als ich eine kurze Pause einlegte um durchzuatmen, forderte er mich auf weiterzuerzählen.
„Und heute war ich in dieser Boutique um das rote Kleid wieder anzuziehen – doch es war bereits verkauft. Als ich deshalb dann gehen wollte, lief ich wieder einmal in ihn hinein. Und so kam es eben dazu, dass er mich zu sich einlud. Es war wirklich eine dumme Idee zuzustimmen, ich weiß!"
„Toll find ich das natürlich nicht, da bin ich ganz ehrlich, aber wieso weinst du deswegen?", hakte er nach.
„Wie soll ich das sagen?", dachte ich laut nach. „Sagen wir es so – er ist etwas ungemütlich geworden."
„Oh nein."
„Was ist?"
„Hat er dir auch wehgetan?"
Auch?
„Nein, das nicht. Aber -"
„Er hat dir Angst gemacht, habe ich Recht?", fiel er mir ins Wort.
„Ja, sehr. Woher weißt du das?", wollte ich wissen.
„Hat er dir nichts davon erzählt?"
Ich setzte mich auf um ihm besser zuhören zu können.
„Sebastian ist psychisch labil. Er hat wirklich starke Aggressivitätsprobleme."
Krass. Das hatte ich nicht erwartet. Sebastian und gewalttätig? Psychisch krank? Das hätte ich ihm niemals zugetraut. Aber da wurde mir wieder klar, wie sehr die Oberfläche doch täuschen konnte.
„Seitdem seine erste große Liebe ihn verließ, ist er irgendwie durchgedreht. Er ist ein sehr anhänglicher Mensch mit starken Verlustängsten geworden.", fuhr er fort.
„Dann ist er quasi wie ich?"
„Nein, auf keinen Fall. Er ist ein Extremfall. Er will einen Menschen buchstäblich besitzen, weißt du? So nach dem Motto; nur ich und kein anderer. Das macht vielen Leuten Angst, sogar mir zu Anfang. Deswegen musst du vorsichtig sein. Ich glaube, dass er seine Pillen abgesetzt hat, bin mir aber nicht ganz sicher."
Jetzt machte es etwas Sinn. Alle Wut fiel von mir ab. Hätte ich gewusst, dass er krank ist, hätte ich ihn wahrscheinlich ein wenig nachvollziehen können. Er tat mir schrecklich leid. Vielleicht war er nur eine Person, die wieder jemanden brauchte, der ihn mochte und ihm zeigte was es hieß, etwas gern zu haben. Hatte ich überreagiert? Wenn ich im Nachhinein daran denke, würde ich eventuell zustimmen. Doch ich war so aufgelöst und hilflos – da war meine Reaktion vollkommen berechtigt.
„Da war noch was.", erzählte ich weiter. „Er hat mich geküsst."
Wieder einmal eine unangenehme Totenstille in der Leitung.
„Wirklich?"
„Ja."
„Weiß er, dass wir uns kennen?"
„Nein.", antwortete ich knapp.
„Gut, dann weiß ich, was jetzt zu tun ist.", sagte er zum Schluss.
Piep. Piep. Piep. Aufgelegt. Was habe ich eben nur angerichtet. Was würde er jetzt tun? Ich hoffte so sehr, dass er nicht das tun würde, was mein Unterbewusstsein ohnehin schon befürchtete – den Kontakt abbrechen, weil ich nicht voll und ganz zu ihm stand. Das Schlimmste, was passieren könnte. Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt