10. Kapitel

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Nun war es aus mit mir – ich hab die Welt nicht mehr verstanden. Was wollte er mir damit sagen? Wieso diese Nachricht? Warum jetzt?

An: Alex
Was meinst du?! Und vor allem wie meinst du das?

Von: Alex
Na das hier. Diese Internetbekanntschaft. Ich bin doch überhaupt nicht real für dich!

Hatte er getrunken? Wieso schrieb er plötzlich sowas? Ich starrte auf mein Display und schüttelte den Kopf. Irgendwie war ich mir nicht ganz sicher, ob das jetzt tatsächlich sein Ernst war. Es muss eine Erklärung haben. Ich wählte seine Nummer und wartete, doch niemand nahm ab. Dabei wusste ich ganz genau, dass er gerade an seinem Handy war.

An: Alex
Was ist los?! Natürlich bist du real für mich! Nicht umsonst verbringe ich so viel Zeit mit dir.

Von: Alex
Genau das ist es ja – wir verbringen die Zeit nicht wirklich miteinander. Du bist nicht hier und ich bin nicht bei dir. Unsere „Beziehung" findet nur über das Internet statt, verstehst du?!

Die Worte entsetzt und endlos enttäuscht würden meinen Gesichtsausdruck in diesem Moment sehr gut beschreiben. Wie er das Wort ‚Beziehung' in Anführungszeichen setzte – so als wäre es vollkommen lächerlich zu denken, dass es tatsächlich eine Art von Verhältnis war. Ich biss mir auf meine Unterlippe und fing an zu tippen. Alex war allerdings schneller.

Von: Alex
Ich kann das nicht. Ich weiß, vielleicht denke ich zu viel nach, aber ich sehe es einfach realistisch.

Und nun war es zu spät. Meine Augen füllten sich mit Tränen und die Nachricht verschwamm. Eine Träne rollte meine Wange hinunter und hinterließ einen wässrig schwarzen Streifen. Zu Anfang versuchte ich meine Traurigkeit zu verbergen, wischte immer wieder über mein Gesicht und redete mir ein, dass er nur Spaß machte. Doch je länger ich abwartete und auf eine auflösende Nachricht von ihm hoffte, desto misstrauischer wurde ich.

An: Alex
Was soll das?! Hör zu, du wusstest von Anfang an, dass es so sein wird. Dass ich nicht bei dir sein kann, dass Spontanität nicht klappt bei uns. Aber findest du diese Herausforderung nicht schön? Mal ein bisschen was riskieren und neue Erfahrungen sammeln? Ich bin wirklich enttäuscht von dir, ehrlich. Ich kann nicht glauben, dass du es nicht einmal probieren willst. Auch, wenn wir uns erst seit knapp zwei Wochen kennen. Das ist doch erst der Anfang! Du musst dich nur drauf einlassen. Trau dich..

Ich sperrte mein Handy, schob es zurück in meine Tasche und starrte auf die gegenüber liegende Kreuzung. Ein Auto nach dem anderen fuhr an mir vorbei und zum ersten Mal achtete ich auf die Herkunft der Fahrzeuge. Bremen, Hannover, sogar München! So Viele nicht von hier und trotzdem in Hamburg. Alex könnte eines dieser Autos sein, wenn er denn nur wollte. Eins aus Brighton – auf dem Weg zu mir...
Ich runzelte die Stirn und gruselte mich davor, dass ich ihn mit einem Auto verglich. Wie gesagt, er bringt mich wirklich um den Verstand. Eine Hand auf meiner Schulter riss mich aus meinen Gedanken.
„Heh, alles in Ordnung? Du bist so stürmisch gegangen und stehst nun schon so lange hier draußen. Du musst doch frieren!"
Ich drehte mich zu Annika um und sie bemerkte meine verwischte Wimperntusche. Sie wusste sofort was zu tun war, legte ihren Mantel über meine Schultern, schob mir einen Zwanziger in die Hand und wählte eine Telefonnummer. Als sie auflegte nahm sie mich noch einmal in den Arm. Sie drückte mich fest an sich und ich war dankbar, dass sie verstand, ohne ihr alles erzählen zu müssen.
„Dein Taxi ist auf dem Weg. Anscheinend gibt es da doch etwas, was dich mehr beschäftigt, als der Geschäftspartner meines Vaters."
„Danke."
Wir lösten uns voneinander und sie lächelte mir zum Abschied zu. Und ja, ich hatte wirklich gefroren – als mich ihre Körperwärme nicht mehr umgab, erschauderte ich und ich schlang ihren Mantel enger um mich. Ein Glück ließ mich das Taxiunternehmen nicht allzu lange warten.

26 Tage zuvor
Er hatte sich nicht mehr gemeldet – ich auch nicht. Zugegeben war ich sehr traurig darüber, dass es so enden musste. Falls dies das Ende war?! Ich konnte ihn absolut nicht mehr einschätzen, der plötzliche Sinneswandel war nicht nachzuvollziehen. Hatte er etwa ein Mädchen kennengelernt? Eins in Brighton? Ich stellte mir den ganzen Tag über viel zu viele Fragen. Mein Kopf war bis zum obersten Rand voll mit Alex und ich gab es schließlich auf, irgendwelche Gerichtsverfahren durchzuarbeiten. Außerdem war Sonntag und da wird eh nicht gearbeitet.
Und dann tat ich etwas, was ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht hatte. Ich zog mir meine Sportklamotten an, schnappte mir meine Kopfhörer und meinen mp3 Player (ja, so etwas besitze ich noch) und ging laufen. Das letzte Mal als ich tatsächlich so richtig bewusst laufen gegangen bin, war bestimmt fünf Jahre her, damals in der zwölften Klasse beim Ausdauertraining. Tja, genau das bekam ich dann auch zu spüren. Ich lief gerade am Hafen vorbei und war erst seit ungefähr sechs Minuten unterwegs, da überraschten mich die wohl heftigsten Seitenstiche meines Lebens. Aber gerade das gab mir nur noch mehr Antrieb weiter zu machen. Weiter laufen. Den Kopf frei kriegen. Die Seele entlasten. Einfach bis zur endgültigen Erschöpfung laufen. Ich beschleunigte mein Tempo und sprintete sogar ein kleines Stück. Meine Beine wurden schwerer, meine Atmung schneller, aber ich ignorierte es gekonnt und beendete meine Runde nach vierzig Minuten. Ich hab's durchgehalten! Ich hab es durchgezogen und meinen inneren Schweinehund überwunden. Ich wünschte, dass Alex das auch tun würde.
Aber anscheinend war es wohl tatsächlich jetzt schon vorbei.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt