32. Kapitel

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Sein Haus war nicht weit entfernt. Ein neues Taxi stand bereits für uns zur Verfügung und nach siebenminütiger Fahrt waren wir in einer - im Vergleich zu Beachy Head - sehr großen Siedlung namens Friston angekommen. Hier gab es viele prächtige Anwesen und Villen. Alex allerdings lebte in einem dieser typisch englischen Häuser, schmal und eng aneinandergereiht mit vielen Schornsteinen. Als wir sein Grundstück betraten und durch die Pforte gingen, schaute uns ein junger, rothaariger Mann vom Fenster aus an.
„Falls du dich fragst – das ist Ethan. Mein Kamerad, bester Freund und gleichzeitig auch mein Mitbewohner."
„Oh, du lebst überhaupt nicht allein?", hakte ich daraufhin unglaubwürdig nach.
„Nein. Hatte ich das nicht erwähnt?"
Ich schüttelte wieder den Kopf.
„Gut, dann weißt du es jetzt. Daher auch dein auswärtiger Schlafplatz.", rechtfertigte er sich.
Dann schloss er auch schon die Tür auf und wir nahmen die Treppe zur ersten Etage.
„I'm home, mate!"
Ethan kam aus dem Wohnzimmer und schlug bei Alex ein. Danach fiel sein Blick auf mich und ich musterte ihn ebenfalls. Vorurteile gegenüber Rothaarigen hin oder her – er war verdammt gutaussehend! Seine Frisur erinnerte mich an Pumuckl – jedenfalls waren sie genauso strubbelig und zerzaust, was aber wahrscheinlich an seinen Locken lag. Er hatte ein sehr kantiges Gesicht, doch die Sommersprossen ließen ihn jung und freundlich wirken.
„Ist das die, von der du erzählt hast?", fragte Ethan.
Ich runzelte die Stirn. Ebenfalls ein Deutscher? Alex nickte und zog mich ein wenig zu sich heran.
„Schön dich endlich kennenzulernen! Ich bin Ethan. Ethan Hall. Endlich bekommt der Grund für Alexanders gute Laune ein Gesicht!", stellte er sich vor und ich musste automatisch anfangen zu kichern, während Alex nur die Augen verdrehte.
Irgendwie süß, was Ethan über ihn sagte.
See ya!", sagte er dann zu uns, schob sich an mir vorbei und hopste nach draußen.
„Wieso spricht er Deutsch?", fragte ich Alex.
„Ich glaube sein Name ist das Englischste, das er besitzt. Lass es mich dir kurz erklären; er ist hier geboren, dann nach Hamburg gezogen und dort aufgewachsen, um anschließend wieder mit mir in seine Heimat zurückzukehren. Komische Geschichte."
„Ah.", erwiderte ich.
„Möchtest du eine Kleinigkeit essen?", fragte er, während er mir meine Jacke abnahm und sich auf den Weg ins Wohnzimmer machte.
„Gerne auch etwas mehr als nur eine Kleinigkeit!", jammerte ich.
Ich hatte einen Bärenhunger. Die Banane und der Schokoriegel waren nicht unbedingt der beste Proviant für eine solch lange Reise. Nun ging auch ich in das Wohnzimmer und ich machte mich auf die Suche nach der weißen Wand mit dem altbekannten Rotweinfleck. Da. Direkt hinter dem Esstisch, an dem Alex immer mit mir gechattet hatte. Daneben die Bücherregale – es kam mir so surreal vor, da ich diese Kulisse immer nur aus den Videos kannte. Vorsichtig berührte ich die raue Wand und strich über den einzigen Hauch Farbe im Raum. Die Wohnung war chaotisch und gleichzeitig sehr eintönig eingerichtet, was mir allerdings ziemlich gut gefiel.
„Buh!", sagte er laut und ich erschrak, als er plötzlich hinter mir stand und die Hände um meine Taille legte.
Ich atmete tief durch und drehte meinen Kopf in seine Richtung.
„Na, bestaunst du gerade Clarissas Werk?", fragte er und stützte sein Kinn auf meine rechte Schulter.
„Irgendwie schon. Du hattest Recht. Sie hat wirklich gute Arbeit geleistet!"
Er seufzte und entfernte sich wieder von mir.
„Also Fine, möchtest du essen? Ich möchte dir meine besonderen Fähigkeiten im Feinschmeckerkochen zeigen. Du hast die Wahl zwischen.. nun ja.. Toast mit Käse oder Toast mit Butter."
„Was ist wenn ich ein Toast mit beidem möchte? Schafft das der Chefkoch denn?", lachte ich und er warf eine Brotscheibe nach mir.
„Ey!", rief ich entsetzt und warf sie gegen seinen Kopf zurück.
„Na warte!"
Alex schmiss die Käseverpackung und das Messer auf die Küchenzeile und kam auf mich zugelaufen. Wir spielten wiedermal eine Runde fangen, so wie wir es in meiner Wohnung taten.
„Du kriegst mich nicht!", rief ich ihm entgegen und lief ins Badezimmer.
„Oh doch!"
Ich sah ihn auf dem Flur und ich duckte mich schutzsuchend. Er allerdings schloss nur die Tür und drehte den Schüssel zweimal herum. Allerdings von außen. Alex hatte mich soeben tatsächlich im Badezimmer eingeschlossen.
„Was zum?!", murmelte ich.
Ich hämmerte gegen die Tür und rüttelte am Griff.
„Hey! Alexander Krevitz! Lass mich raus!", brüllte ich.
„Böse Mädchen gehören eingesperrt!", entgegnete er daraufhin sarkastisch.
„Und was wird jetzt aus meinem Toast?!"
Keine Antwort. Na toll. Früher oder später würde er mich sowieso raus lassen. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und musterte die Einrichtung. Bei dem Anblick auf die Haare im Waschbecken, die benutzen Ohrenstäbchen darauf und die Zahnpastaflecken am Spiegel, verzog ich ein wenig angewidert das Gesicht. Hier musste auf jeden Fall mal sauber gemacht werden! Es fehlte wohl einfach eine Frau im Haushalt, die diese Dinge unter Kontrolle hatte. Wurde also Zeit, dass ich einzog. Bei dem Gedanken musste ich wieder lächeln. Plötzlich klopfte es am Fenster. Ich schob die Vorhänge beiseite und schaute in Alexanders amüsiertes Gesicht. Er kniete auf einem kleinen Vordach, das wohl noch durch ein weiteres Fenster zu erreichen war. Zunächst versuchte herauszufinden, wie man diese blöden Schiebefenster öffnen sollte. Er deutete mit dem Finger auf die mittlere Leiste, woraufhin ich zwei Hebel zur Seite drehte und die Glasscheibe nach oben schieben konnte.
„Was zur Hölle tust du da?"
In der einen Hand balancierte er einen Teller, mit der anderen klammerte er sich an der Hauswand fest.
„Komm.", bat er mich zu sich nach draußen.
Ich verschränkte kurz die Arme vor der Brust und wollte protestieren. Mein knurrender Magen brachte mich allerdings dazu, mich durch die kleine Fensteröffnung zu quetschen. Ich brauchte wirklich was zu Essen.
„Hoffentlich kommen wir nicht mehr rein und du bereust, dass du mich im Bad eingeschlossen hast!", maulte ich und griff nach meinem Toast.
Kurz nachdem ich mich in eine sichere Haltung begeben hatte, ohne dabei von den morschen Dachziegeln zu rutschen, schmiegte er sich liebend an mich. Jaja, der Herr Krevitz wollte auf unschuldig machen – ich merkte schon. Genervt zuckte ich mit der Schulter auf und ab, worauf er anfing zu grummeln und mich bat, damit aufzuhören.
„Lass mich in Ruhe essen, bitte. Danke.", brummte ich.
„Ich möchte aber bei dir sein."
Nie konnte ich meine Mundwinkel unter Kontrolle halten. Jedes Mal schossen sie nach oben, als hätte ich im Lotto gewonnen. Ständig war ich am grinsen, wenn Alex bei mir war. Sogar wenn ich mit ihm schrieb lächelte ich konstant. Ein Blick zur Seite und ich sah, dass er ebenfalls glücklich die Augen geschlossen hatte. Alexander Krevitz war wahrlich der wunderbarste Mensch, den ich in den letzten dreiundzwanzig Jahren kennenlernen durfte. Eigentlich glaubte ich nicht an Schicksal, aber was wäre, wenn Gott (falls es ihn gab) von Anfang an wollte, dass es ausschließlich mit Alex klappen sollte und es deshalb mit anderen Typen immer gescheitert ist? Vielleicht suchte ich auch nur erneut eine Erklärung, wie ich mich so zu ihm hingezogen fühlte. Ich konnte es aber nachwievor nicht begründen.

„Hörst du das?", fragte ich schließlich, nachdem ich aufgegessen hatte und der Kopf auf meiner Schulter allmählich schwerer wurde.
Es schien, als würde Alex aus einem kleinen Nickerchen gerissen werden. Erschrocken setzte er sich auf und blinzelte mich an.
„Hä?", knurrte er.
„Dieses Klingeln. Ich glaube dich ruft jemand an."
„Das kann warten.", beruhigte er mich.
Das Geräusch klang ab und er lehnte sich wieder gegen mich. Mit meiner freien Hand fuhr ich durch seine Haare und massierte ihn dabei. Wie ein Kätzchen fing er genüsslich an zu schnurren. Ich lachte kurz auf, verstummte aber, als Alexanders Handy erneut klingelte.
„Es klingelt schon wieder.", ermahnte ich ihn. „Ich denke es ist wichtig."
Er stöhnte genervt auf und hechtete durch das Fenster wieder in seine Wohnung zurück. Ich folgte ihm und stand nun in seinem Schlafzimmer. Für das Telefonat war Alex ins Wohnzimmer verschwunden – er schloss sogar die Tür. Währenddessen machte ich es mir auf seinem Bett bequem und wartete ab. Nachdem er nach fünf Minuten immer noch telefonierte, begab ich mich auf Entdeckungsreise. Wirklich gemütlich lebte er nicht. Sein Zimmer sah alles andere als einladend aus. Die Möbel waren willkürlich zusammengewürfelt und auch nach Deko konnte ich lange suchen. Keine Pflanzen, keine Bilder. Anscheinend hatte Ethan das Wohnzimmer gestaltet.
Ich ging hinüber zu seinem Schreibtisch, welcher unter all dem Papierkram fast zusammenbrechen drohte. Hauptsächlich Ordner und Akten von der Marine stapelten sich darauf. Außerdem ein kümmerlicher Drahtbecher mit ein paar Stiften darin. Erst dann fiel mir die Pinnwand an der Wand auf. Daran heftete eine alte Weltkarte, welche mit Stecknadeln und auffälligen Post-It's versehen war. Seewege hatte er mit roten Wollfäden gekennzeichnet. Und dann sah ich es. Das einzige Foto weit und breit. Es war nicht irgendein Bild – es war ein Bild von mir. Mein Profilbild vorm Eiffelturm, welches ich zu Anfang noch auf „Talking to Strangers" eingestellt hatte. Ich entfernte es vorsichtig und sah es mir genauer an. Kein Zweifel, das war ich. Ich drehte das Foto um und erkannte seine krakelige Handschrift. For her konnte ich entziffern. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich zitterte vor Freude. Ich hing in Alexander Krevitzs Pinnwand. Wie toll ist das bitte?! Was auch immer das zu bedeuten hatte – es konnte nichts Schlechtes heißen.
„I'll be there, Sir.", verstand ich zum Schluss, als er sich auf den Weg zu mir machte. „Aye, Sir! Bye."
Die Wohnzimmertür öffnete sich und ich brachte schnell das Foto wieder an seinen Platz zurück. Ich huschte wieder zum Bett hinüber und setzte mich so hin, als hätte ich die letzten zehn Minuten nichts anderes getan.
„Ich muss dich zurück zum Hotel bringen.", murmelte er leise und blieb vor mir stehen.
„Hä? Warum? Was ist los?", widersprach ich und stellte mich ebenfalls hin.
Er sah mich an. Seine wunderschön blauen Augen wirkten trüb. Überhaupt nicht strahlend, wie sie es vorhin noch waren.
„Ich habe gleich einen wichtigen Termin beim Leutnant. Du weißt, dass ich nicht absagen kann.", stotterte er.
Ich legte meine Hand an seine Wange und streichelte sie sanft.
„Ach, das ist vollkommen in Ordnung. Die eine Stunde werde ich schon alleine überleben.", besänftigte ich ihn.
Alex drückte mich daraufhin ganz fest an sich.
„Danke."
Etliche Minuten vergingen und wir ließen uns nicht los. Beziehungsweise ließ er nicht locker. Er presste mich so fest an sich, dass es fast schon wehtat. Es war mir nicht unangenehm, aber es verwunderte mich. Diese Umarmung war anders als die zur Begrüßung. Letztendlich stemmte ich meine Hände behutsam gegen seinen Bauch, um mich von ihm zu entfernen. Nicht, dass ich es unbedingt wollte, aber ich hatte keine andere Möglichkeit, um endlich wieder tief durchatmen zu können.
„Bitte nicht.", flüsterte er.
Er bettelte förmlich.
„Ich. Kann. Nicht -"
Ich befreite mich aus seinem Griff und atmete erleichtert auf.
„...atmen.", beendete ich den Satz schließlich.
„Bestell mir ein Taxi und wir sehen uns nach deinem Treffen wieder.", tröstete ich ihn, nachdem ich sein elendig dreinblickendes Dasein bemerkte.
Es kam keine Antwort. Alex setzte lediglich ein gequältes Lächeln auf und nickte.

Das Taxi hupte und ich schnappte meine Jacke vom Garderobenhaken.
„Bis später!", rief ich ihm entgegen.
„Warte!", schrie er und ich erschrak, wie laut er werden konnte.
Ich drehte mich zu ihm um und runzelte die Stirn.
„Was ist?"
„Hier, du brauchst schließlich noch Geld. Ohne Moos nix los, schon vergessen?", erinnerte er mich freundlich und hielt mir einen Fünfziger hin.
„Du bezahlst doch schon mein Zimmer. Und die anderen Fahrten gingen auch schon auf dich! Ich habe auch noch ein paar Pfund dabei."
„Josefine, ich kann es mir aber leisten.", sagte er daraufhin ernst und wedelte mit dem Schein vor meiner Nase herum.
„Ja, ist ja gut!", lachte ich. „Bis nachher."
Ich machte einen Schritt zurück und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange, bevor ich die Treppen zum Ausgang hinunter stürmte. Im Vorgarten kam mir Ethan entgegen. Er schaute bedenklich und schien mich gar nicht bemerken zu wollen. Er drängte sich still an mir vorbei und huschte durch die noch geöffnete Haustür.
„Pack deine Sachen!", konnte ich seine Stimme rufen hören.
Anscheinend hatte er ebenfalls einen Termin beim Leutnant.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt