36. Kapitel

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Ich kniff meine Augen zusammen, um überhaupt etwas lesen zu können.

Von: Sebastian
Magst du später auf 'nen Kaffee vorbei kommen?

Seine Nachricht kam wie gerufen. Noch eben hatte ich von einer Wiederbegegnung mit Alexander geträumt - nun schrieb mir sein Halbbruder. Er war die Ablenkung die ich eventuell jetzt brauchte. Ich gestehe, dass es noch immer schwierig für war mich zu verstehen, dass Sebastian und Alex dasselbe Blut teilten und ich bei jedem Treffen mit ihm einem Teil Vergangenheit entgegensah. Irgendwie eine schlechte Idee, wenn ich doch eigentlich über Alex hinweg kommen wollte. Ich würde wohl nie dazulernen.

An: Sebastian
Klar.

Ich schaute auf die Uhr und es war mittlerweile neun Uhr. Tatsächlich hatte ich es geschafft ein paar Stunden zu schlafen (nachdem ich mich den halben Abend nur im Bett hin und her wälzte). Mein Mund war trocken und ich nahm einen großen Schluck Wasser aus der Flasche neben meinem Nachttisch. Noch immer tat mein Kopf weh und es fühlte sich so an, als würde ich einen Betonklotz auf den Schultern mit mir rumtragen. Ich war es so satt mich so träge zu fühlen. Der "Albtraum" hatte mich aus der Spur gebracht und ich konnte die Hälfte des Morgens an nichts anderes mehr denken. Es hat sich so real angefühlt - als wäre es tatsächlich passiert. Natürlich völliger Quatsch, aber ich dachte wirklich, dass es echt war. Bis ich geweckt hatte. Der Traum endete mit einem "Ich liebe dich" und einem überrumpelnden Kuss. Oh Gott. Wie sehr ich mir immer noch wünschte, dass sein Abtauchen bloß ein Spaß war und er plötzlich in meiner Tür stehen und genau das tun würde...
Ich grübelte noch einige Zeit über die letzte Nacht und stand somit erst eine halbe Stunde später auf. Mein Magen knurrte und schmerzte fürchterlich, weshalb ich beschloss mir eine Kleinigkeit zu Essen zu machen. Besonders Appetit hatte ich zwar nicht, aber ich dürfte meine Bedürfnisse nicht allzu lange unterdrücken. Ich hatte seitdem ich am Flughafen los geflogen bin nichts mehr zu mir genommen. Weder Wasser noch Nahrung. Und dazwischen lagen nun mehr als vierundzwanzig Stunden. Kein Wunder, dass ich mich so ausgelaugt fühlte. Ich verspürte eine seltsame Lust auf Haferbrei - warum auch immer.
"Keine Milch.", murmelte ich, als ich den Kühlschrank öffnete und glänzende Leere vorfand.
Vielleicht habe ich im Abstellraum noch eine Tüte. Ich schlenderte also wieder aus der Küche, bog rechts ab und betrat den kleinen, dunklen Raum. Nachdem ich das Licht angeschaltet hatte, durchforstete ich die Regale und fand auch hier nichts vor. Erst als ich mich zu Boden kniete, fand ich mehrere Tetrapacks mit haltbarer Vollmilch. Bevor ich nach einem greifen konnte, erstarrte ich und hielt inne. Da hinten. In der letzten Ecke. Ich sah sie wieder. Die Kiste. Entweder hatte ich ihn nicht gut genug versteckt oder meine Neugier war nach wie vor viel zu groß. Zunächst zögerte ich einen Moment. Letztendlich wanderte meine Hand dann doch unter das unterste Regalbrett und ich zog Mamas Kiste behutsam hervor. Ich strich mit der flachen Hand über die Oberseite und atmete tief aus. Atmete ein. Aus. Ein. Aus. Irgendwie war ich nachwievor – wieso sollte ich auch plötzlich keine mehr haben? Weil ich stärker bin, als ich vielleicht immer gedacht hatte. Oder nicht? Ich hob den Karton hoch und ging in mein Zimmer damit - die Milch interessierte mich nicht mehr.
Ich setzte mich im Schneidersitz auf meinen Schlafzimmerteppich und stellte ihn vor meinen Füßen ab. Mit den Ellenbogen aufgestützt, musterte ich meinen Feind. So, als würde ich mich auf den nächsten großen Kampf vorbereiten. Der Kampf gegen die Angst. Dabei war ich mehrere Male schon so kurz davor sie zu öffnen. Aber ich schaffte es nie wirklich. Die Neugier brannte in meinen Fingern und gleichzeitig wollte ich keine alten Wunden aufreißen. Würde ich damit zurechtkommen? Mich wieder daran erinnern, dass sie für immer fort war? So wie Alex.
Verdammt diese Stimmen! Mein Kopf sollte endlich die Klappe halten.
Dann tat ich es. Einfach so. Ein Instinkt sagte mir, dass jetzt der geeignetste Zeitpunkt wäre. Weiter machen. Mich überwinden. Endlich nach vorne sehen. Plötzlich war alles ruhig. Dies sollte der erste Schritt in ein neues Leben sein. Und außerdem wollte ich endlich erfahren, was meine Mutter mir hinterlassen hatte.
Ich riss den Deckel ab und breitete den Inhalt weiträumig vor mir aus. Zunächst schloss ich angewidert die Augen. Ich hätte mich ohrfeigen können dafür. Denn als ich sie wieder öffnete lächelte ich. Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als ich den vertrauten Duft meiner Mutter wahrnehmen konnte. Es war so, als wäre sie wieder hier. Wieso hatte ich es nicht schon früher getan? Eine riesige Last, die mir genommen wurde und ich freute mich, dass ich es geschafft hatte. Schweigend (und immer noch lächelnd) musterte ich die Sachen auf dem Boden. Viele Papiere – vermutlich sogar Papierkram, der heute noch von Bedeutung sein könnte – Skizzen, ihr Lieblingshalstuch und ein Haufen von alten Fotos, welchen ich zuerst in die Hand nahm. Teilweise waren es sogar noch Polaroids und ich nahm mir viel Zeit um jedes Bild ausgiebig zu untersuchen. Hier eins aus dem Skiurlaub, worauf sie und mein ‚kleiner großer Bruder' zu sehen waren. Beide stehen sie lächelnd vor einem Lift in den verschneiten Alpen. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch schwanger mit mir. Auf dem Nächsten sah ich sie mit meiner Oma, mit welcher ich leider viel zu wenig gemeinsame Zeit erfahren durfte. Sie starb als ich vier Jahre alt war und trotzdem kann ich mich noch daran erinnern, wie sie mich immer mit Bonbons bestach damit ich Mama ja nicht erzählte, dass sie wieder absichtlich ihre Tabletten ausgelassen hatte. Natürlich ein riesiger Fehler.
Sie so lächelnd zu sehen machte mich glücklich und ich vergaß all meine Sorgen und Probleme. Meine Mutter strahlte eine gewisse Ruhe aus und jeder um sie herum fühlte sich automatisch wohl – einfach weil sie da war. Ich vermisste dieses Gefühl, wenn sie den Raum auf einer öden Familienfeier erheiterte und meinen Bruder und mich zum Lachen bringen versuchte. Da musste ich auch wieder an Daniel denken. Ich hatte ihn lange nicht mehr angerufen, fiel mir dabei ein. Vielleicht heute Abend. Zunächst genoss ich den Moment, in dem ich in Erinnerungen schwelgen konnte, ohne komplett in Tränen auszubrechen.
Ich legte den Stapel wieder beiseite und kramte all die Papiere zusammen, die teilweise mit reichlich Text bedruckt waren. Es waren hauptsächlich Briefe. Als ich mit einem schnellen Blick den Absender ‚Deutsche Bank AG Hamburg' erkennen konnte wusste ich bereits, dass dies nichts Gutes verheißen konnte, weshalb ich ihn mir für später aufhob. Unter dem Berg an Blättern befand sich allerdings noch eine weitere, interessante Angelegenheit. Ein kleines Buch – es glich der Größe eines DIN A6 Blattes – mit braunem Ledereinband offenbarte sich. Wissensdurstig schnappte ich danach und schaute hinein. Ich überflog einige Seiten und mir wurde relativ schnell klar, dass meine Mutter ebenfalls eine Art Tagebuch geführt hatte. So, wie ich in mein Notizbuch schrieb. Ich war erstaunt, dass sie es mir gegenüber nie erwähnt hatte. Sie meinte zwar, dass ich alles aufschreiben solle was mir passierte, jedoch dachte ich, dass sie dies nur aus Angst sagte, damit ich niemals vergessen würde. Damit es mir nicht so ging wie ihr. Sich nicht mehr erinnern zu können, obwohl man es doch so sehr will, zerstört den Verstand. Man würde sich hilflos fühlen und trotzdem könnte man nicht beschreiben, wie man sich fühlte. Denn vielen Demenzkranken war gar nicht bewusst, dass sie ehemals wichtige Dinge vergaßen. Wie zum Beispiel ihre eigene Tochter.
„Wer sind Sie?", hatte sie damals zu mir gesagt, als ich in ihr Zimmer kam.
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich sie verloren hatte und ich nichts daran ändern könnte. Und dennoch war es schmerzvoll diese Tatsache hinzunehmen. Ich habe mit angesehen, wie ihre Seele zu Grunde ging und war bei ihr, als sie friedlich in ihrem Bett einschlief, während ich ihre Hand hielt. Ich hatte mittlerweile die letzte Seite ihres Notizbuches erreicht und eine Träne kullerte auf das dünne Papier. Nun kamen zu viele Erinnerungen hoch und ich wusste nicht, ob ich gleich wieder die Fassung verlieren würde oder nicht. Ich schaute auf die leere Seite und blätterte ein wenig zurück. Viele Seiten waren unbeschrieben – fast ein Drittel war noch leer. Ich wendete solange, bis ich die zuletzt beschriftete Seite von ihr fand. Ich runzelte die Stirn, als ich das Datum laß. Sie hatte es tatsächlich geschafft, noch kurz vor ihrem Tod einen Eintrag zu verfassen. Es ist gerade mal etwas über ein halbes Jahr her.

‚Erlebe.'

Das ist das Einzige, was dort stand. Erlebe. Wollte sie vielleicht weiterschreiben doch hatte vergessen was? Aber hinter dem Wort stand ein Punkt. Sie war anscheinend fertig. Was sie dort flüchtig hin gekritzelt hatte machte keinen Sinn. Vielleicht war es auch ein Wort, an das sie sich wieder erinnern konnte. ‚Erlebe' war wahrlich ein schöner Begriff. Eine Aufforderung, der man sich gerne hingab. Ich blätterte noch um und schaute auf das Datum. Er war aus dem letzten Sommer, den sie selbstständig verbrachte. Der Sommer vor der Diagnose. Juli 2014. Fast zwei Jahre ist es her. Krass, wie schnell die Zeit verging. Ich verglich die beiden Einträge miteinander. Wieso hatte sie noch dieses eine Wort hinzugefügt? So völlig random? Ich kaute angespannt auf meiner Lippe herum und wusste, dass ich die Antwort erst finden würde, wenn ich mich ausführlicher mit ihren Aufzeichnungen beschäftigte. Doch dafür war jetzt nicht der richtige Augenblick. Jetzt sollte ich erst einmal zu Sebastian aufbrechen.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt