16. Kapitel

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22 Tage zuvor
Ich hatte tatsächlich vergessen, Sebastian für seine Einladung abzusagen. Hoffentlich hat er nicht den ganzen Abend darauf gehofft, dass ich noch vorbeikommen würde, sondern sich stattdessen mit jemand anderem vergnügt. Er tat mir irgendwie leid und ich wusste, dass es unangenehm werden würde, wenn wir uns in der Universität sahen.

Auf dem Weg ins Hauptgebäude wurden meine Befürchtungen wahr. Sebastian kam mir entgegen und ich wurde rot. Ich versuchte ihn nicht zu beachten, doch er hatte mich bereits erkannt und steuerte direkt auf mich zu.
„Wo warst du gestern?", begrüßte er mich und hielt meinen Unterarm sanft fest.
„Ich.. eh.. ich wurde aufgehalten.", schwindelte ich, entzog ihm meinen Arm und  vergrub die Hände in meinen Manteltaschen.
„Schade, ich hatte extra Nudelauflauf für uns gemacht."
Ich zuckte mit den Schultern und verzog den Mund. Ich ahnte ja nicht, dass er sich tatsächlich auf meinen Besuch einstellte, schließlich hatte ich ja auch nicht hundertprozentig zugesagt.
„Naja, die Reste kann man ja immer noch essen. Wie sieht's mit heute Mittag aus? Ich habe nach dieser Vorlesung frei.", meinte er und sah mich erwartungsvoll an.
Was jetzt? Zusagen? Ich wollte ihn wirklich nicht verletzen, aber aus uns könnte nie etwas werden. Auch, wenn er höllisch gut aussah, war er zum einem mein Professor (und eine Beziehung wäre vor dem Gesetz sowieso verboten) und zum anderen Alexanders Bruder. Na gut, Halbbruder. Aber trotzdem war er seine Familie und das ging einfach nicht. Ich hatte mich für Alex entschieden und daran sollte es keinen Zweifel mehr geben.
„Sebastian, ich glaube das ist keine gute Idee. Ich -", hielt ich für einen Moment inne und überlegte wie ich dieses Gespräch so kurz wie möglich halten könnte.
„Ich kann's nicht erklären. Sorry, ich muss jetzt rein.", beendete ich und huschte an ihm vorbei.
„Ich werde nicht aufgeben, merk dir das! Durchhaltevermögen eines Marathonläufers!", rief er mir noch hinterher.
Ein paar Studenten drehten sich zu mir und Sebastian um, der ab sofort wirklich nur noch ‚Professor Winkler' für mich war. Ich senkte meinen Kopf und versuchte so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen. Leider zu spät. Eine kleine Gruppe von Mädchen im ersten Semester fing bereits lauthals an zu tuscheln. Große Klasse, wahrscheinlich würde mich das jetzt sogar noch mein Studium kosten – und ihn seinen Job.

Ich verschob die Vorlesung von Winkler und setzte mich stattdessen in eine Präsentation der diesjährigen Absolventen, an der unter anderem Annika beteiligt war. Sie winkte und grinste mir unmerklich zu, als sie mich erkannte. Ich hatte mich nicht dafür eingetragen etwas vorzustellen, obwohl ich ebenfalls diesen Sommer mein finales Staatsexamen schreiben werde.
Nachdem sich der Raum leerte, ging ich runter zu Annika und sie fiel mir in die Arme.
„Und? Wie war ich?!", wollte sie sofort wissen.
„Tadellos wie immer! Du hast alle anderen in den Schatten gestellt. Der Rektor war beeindruckt!"
„Was wirklich? Ich habe vor lauter Aufregung gar nicht auf seine Mimik und Gestik geachtet.", stellte sie fest.
„Er hat mehrmals anerkennend die Augenbrauen hochgezogen und zum Schluss sogar geklatscht!"
Der glatzköpfige Rektor mit Brille, dessen Name mir immer wieder entfiel, war nicht immer in der Uni anzutreffen. Dass er also bei dieser Präsentation dabei war, grenzte an ein Wunder. Annika sprang wie ein Flummi auf und ab und nahm mich noch einmal in die Arme. Zu süß zu sehen, wie sie sich freute.
„Ist eigentlich wieder alles gut bei dir?", erkundigte sie sich.
Ich glaube heute war der Tag gekommen, an dem ich ihr endlich erzählen konnte, was Alex und meine Internetbeziehung betraf. Sie hatte ohnehin jetzt schon gesehen, wie nah mir die Sache ging und ich war nun der Meinung, dass ich ihr heute meine Gefühle darlegen könnte. Annika würde mich bestimmt nicht für bescheuert erklären. Das hätte sie zu Beginn auch nicht.
„Genau darüber würde ich ganz gerne mir dir sprechen.", kündigte ich an. „Hast du heute Mittag Zeit?"
„Ja klar! Ich räume nur noch schnell den Projektor beiseite und dann können wir uns ja in den Park setzen, wenn du magst?"
„Klingt super."
Ich half Annika die Kabel zu verstauen und nahm ihr ihre Unterlagen ab. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum etwa fünfzehn Minuten entfernten Wallringpark. Wir setzten uns auf eine weiße Bank, mit Ausblick auf den zufrierenden Wallgraben. Es hatte die Nacht über ein wenig geschneit und die Landschaft um uns herum sah richtig schön winterlich aus. Ich wickelte mir meinen Schal ein zweites Mal um den Hals und holte meinen (noch) warmen ‚Coffee to go' aus meiner Tasche, welchen ich mir heute Morgen in einen Thermobecher umgefüllt hatte.
„Herrlich, oder?"
Auch Annika staunte über die märchenhafte Kulisse.
„Ja, total.", entgegnete ich und lehnte mich zurück.
Annika wandte sich mit dem Oberkörper zu mir und legte einen Ellenbogen auf die Rückenlehne der Bank. Mit dem Kopf auf ihre Hand gestützt sah sie mich begierig an.
„Du willst wohl, dass ich direkt loslege, huh?", fragte ich und lachte.
„Na aber hallo! Du hast mich total neugierig gemacht, Fine!"
Sie rutschte noch näher an mich ran und ich gab nach.
„Also schön. Wo fange ich am besten an?!", begann ich. „Ich habe jemanden kennengelernt, Annika. Aber nicht wie gewöhnlich so im Club oder auf na Party. Sondern im Internet. Sein Name ist Alexander, er ist Marineoffizier in Brighton und er scheint wirklich mein Seelenverwandter zu sein."
Annika sagte nichts, sondern hörte mir einfach zu. Ich erzählte von Anfang an. Das Café, weihte sie in die Geheimnisse von ‚Talking to Strangers' ein, die Komplikationen mit dem Kontakt und wieso ich deshalb ihren Laptop brauchte. Berichtete über unsere Nachrichten, unsere langen Telefonate. Außerdem, dass wir denselben Musikgeschmack teilten, woraufhin sie verblüfft die Augen aufriss. (Ja Schätzchen, so habe ich auch reagiert!) Ich vertraute ihr an, wie sehr ich mich auf unser erstes Treffen am 1. März freute und, dass ich es kaum abwarten konnte, mein Kopfkino des Vortages, drei Tage später in Brighton wahr werden zu lassen.
„Das hört sich mega wie ein Märchen der Neuzeit an! Woah, ich wusste gar nicht, dass der Geschäftspartner von Papa sein Vater ist. Was für ein Zufall! Kein Wunder, dass du nach dieser Erkenntnis kurz raus musstest. Hast du deshalb am Freitag so bitterlich geweint?", hinterfragte Annika und ich bemerkte, dass ich ganz unterbewusst diesen Teil der Geschichte ausgelassen hatte.
„Nein, nicht direkt. Alex stellte an diesem Abend plötzlich alles in Frage. Mit der Entfernung und so. Er war wie ausgewechselt. So kannte ich ihn überhaupt nicht, deshalb hatte ich für einen Moment das Gefühl, er wolle alles beenden und ich hätte ihn verloren.", gestand ich ihr und ich schaute auf meine Hände.
Sie müsste mich eigentlich für verrückt halten, dass ich nach kurzer Zeit schon so dachte. Aber sie tat es nicht.
„Ich verstehe dich. Manche Gefühle kann man eben nicht verhindern und da ist es verständlich, dass du traurig warst, als es so schien, dass alles vorbei wäre."
Sie legte ihren Arm um meine Schulter und fuhr fort.
„Ich bin der Meinung du solltest es probieren. Beziehungsweise ihr beide. Ist doch mal was anderes, so eine Internetbekanntschaft, oder? Nicht jedes Paar kann sagen, dass sie eine erfolgreiche Fernbeziehung führen."
„Annika, wir sind nicht zusammen!", unterbrach ich sie.
„Jaja und Obama ist nicht der Präsident von Amerika, ich versteh schon."
Ich lachte und wurde schon wieder rot. Alex und ich als Paar. Was für ein wunderschöner Gedanke.
„Du brauchst gar nicht so zu lachen, ihr wisst doch sowieso beide schon, dass ihr euch mögt."
„Ich werde nicht den ersten Schritt machen!", rief ich ihr ins Wort.
„Das habe ich auch nie gesagt."
Wir beide brachen in Gelächter aus und für den Rest des Nachmittags saßen wir weiterhin auf der Bank und schütteten uns gegenseitig die Herzen aus. Noch nie zuvor hatte ich mich so gefreut, dass Annika meine Freundin war. Pling.

Von: Alex
Ich brauche dich jetzt. Dringend! Videochat in fünfzehn Minuten?!

Annika hatte anscheinend mitgelesen.
„Worauf wartest du noch?! Ab nach Hause mit dir!", schimpfte sie und drückte mich auf den Gehweg.
Ich setzte mich in Bewegung und beim Laufen wurde mir zum Glück wieder etwas wärmer.

Von: Alex
Okay, sagen wir eher 10 Minuten?!

Von: Alex
Beeil dich!

Was war auf einmal so wichtig?

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt