42. Kapitel

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4 Monate später
Heute war es soweit: Sebastian kam mich tatsächlich besuchen. Viel zu lange ist es her, dass ich das letzte Mal von ihm gehört hatte oder geschweige denn wusste, wie es ihm geht. Bei meinem letzten Blogupdate, wobei ich meine Zuschauer darüber informierte, dass ich nun zunächst in Paris verweilen und mir eine kleine Videopause genehmigen würde, meldete er sich mit einer kurzen und dennoch aussagekräftigen SMS.

Von: Sebastian
Frankreich also? Das ist nah genug. Bleib wo du bist, verstanden? Ich nehme den nächsten Flieger nach Paris. Ich muss dich sehen.

Zu Beginn dachte ich, dass er bloß Spaß machte. Aber ich kannte seine Art und wusste, dass er bei dem Thema keine großartigen Witze machte. Nachdem er sich auch noch erkundigte, wo ich mich denn nun genau aufhielte, stand hundertprozentig fest, dass ich ihn in ein paar Stunden wohl wiedersehen würde.

An: Sebastian
Wow, du bist doch echt wahnsinnig! Um ein Hotel musst du dich nicht kümmern – du kannst dich bei mir einquartieren, wenn du magst. Ich freue mich auf dich.

Gegen Nachmittag stellte ich mich vor den Eingang des Hotels, um ihn ordnungsgemäß in Empfang zu nehmen. Die Seitengasse, in der sich die Unterkunft befand, worin ich die nächsten vier Nächte verbringen würde, war nicht großartig befahren. Das einzige Fahrzeug hier war ein gelber Wagen, welcher mit mäßigem Tempo auf mich zukam.
Sein Taxi rollte gerade vor, da sprang er auch schon aus der Beifahrertür heraus um mich in die Arme zu schließen. Sebastian in voller Pracht drückte mich wieder fest an sich. Er hatte mich anscheinend vermisst. Ich ihn in zugegebener Weise auch irgendwie. Leider nicht so sehr wie ich Alex... - verdammt. Wieder musste ich an ihn denken, sobald Sebastian bei mir war. Der einzig blöde Nebeneffekt.
„Endlich.", keuchte er und steckte seine Nase in meine Haare.
Genüsslich sog er meinen Geruch ein und auch ich nahm sein angenehmes Eau de Toilette wahr. Sandelholz und eine herbe, typisch männliche Duftnote. Er roch sogar wie sein Bruder.
„Ich bin so froh dich zu sehen.", flüsterte er dann.
Ich war mir unsicher, ob ich es ebenfalls immer noch war. Es steckte so viel Alex in ihm. Sie teilten das gleiche Blut. Zwar sahen sie sich nicht ähnlich, aber allein diese eine Verbindung reichte aus, um gewisse Parallelen zu erkennen. In allem was er tat. Leider.
„Krass, du bist hier.", stellte ich anschließend trocken fest und er lockerte seinen Griff.
„So ist es."
Er strahlte über das ganze Gesicht und seine Augen leuchteten, wie bei einem Kind, dem man einen Lutscher vor die Nase hielt.
„Komm.", lud ich ihn nach drinnen ein.
Gemeinsam nahmen wir den Fahrstuhl in den fünften Stock und fuhren somit nach ganz oben. Schweigend standen wir nebeneinander, doch ich bemerkte, wie er mich anstarrte. Nervös kaute auf meiner Lippe herum. Sein Blick brannte in meinem Nacken und ich konnte es nicht leiden. Die Türen öffneten sich wieder und ich kramte meine Schlüsselkarte hervor, hielt sie vor den Sensor und das Schloss klackte. Langsam öffnete ich die Zimmertür und offenbarte ihm mein kleines Reich. Ein großes Doppelbett zu unserer Linken, schräg gegenüber unter dem Fenster ein Sofa, welches man ebenfalls als Schlafplatz verwenden konnte. Ich geleitete ihn dort hin und forderte ihn auf, seine Sachen daneben abzustellen.
„Tolle Aussicht.", bemerkte er und pellte sich aus seinem schwarzen Filzmantel.
Der Ausblick war wirklich meisterlich. Besonders bei Nacht, wenn der Eiffelturm hinter den Dächern der Stadt zu leuchten und blinken begann. Ich öffnete eins der Fenster und der süße Duft einer Patîsserie strömte zu uns hinauf und erfüllte den Raum.
„Hunger?", fragte ich, in sehnsüchtiger Vorstellung nach Macarons und Eclairs.
„Stört es dich, wenn ich vorher noch schnell eine Dusche nehme? Ich musste zum Gate rennen."
„Klar, kein Problem."
Ich zeigte Sebastian das moderne Bad und drückte ihm anschließend ein Handtuch gegen die Brust.
„Pass aber auf! Die Wassertemperatur spielt ab und zu mal verrückt. Habe mir schon ordentlich den Buckel verbrannt.", mahnte ich.
„Jawohl, Ma'am.", salutierte er wie jemand von der Armee.
Von der Marine. Man Fine, das reicht jetzt.

Ich hörte, wie das Wasser in ungleichmäßigen Abständen zu Boden plätscherte. Wann war er endlich fertig? Mein Magen knurrte fürchterlich und ich lag zusammengekauert auf dem frisch gemachten Bett, hielt mich dabei mit einer Flasche Wasser am Leben, bevor ich komplett zu verhungern drohte. Sebastian war nun schon seit einer gefühlten Stunde da drin. Naja, um ehrlich zu sein erst seit zehn Minuten.
Er drehte die Dusche ab und kam wenige Augenblicke später zurück ins Zimmer. Mit bloß einem Handtuch um die Hüften geschwungen, tropfenden Haaren und nasser Haut trat er vor das Bettende.
„Alles okay?"
Ich nickte stumm. Bei seinem Auftritt stockte mir der Atem. Ach du Heilige ... er sah wirklich unheimlich attraktiv aus. Wieso konnte ich mich nicht einfach Hals über Kopf in Sebastian verlieben? Für einen Moment hätte ich gerne vergessen wollen, dass Alex mein Herz gestohlen hatte.
Er grinste mir verschmitzt entgegen und nahm sich ein paar frische Klamotten aus seinem Koffer.
„Hatte ich vergessen.", fügte er hinzu.
Mein Blick wanderte ihm nach bis er wieder im Bad verschwand. Uff, was war das denn? So kannte ich mich ja gar nicht. Lag vielleicht auch daran, dass ich ihn noch nie so zu Gesicht bekommen hatte. Eine Premiere.

„Ist die Prinzessin jetzt endlich fertig?", neckte ich ihn, als er lässig in Shirt und Jeans zurück kam.
„Ich wollte mir extra Zeit lassen, als ich dein Magenknurren durch geschlossene Tür hören konnte. Wollte dich eventuell ein wenig auf die Folter spannen."
Ich sah ihn grimmig an. Was für eine miese Aktion – für die ich ihm natürlich nicht böse sein konnte.
„Aber ich lade dich zum Essen ein. Sieh es als Entschädigung."
"In Ordnung. Dann lass uns gehen.", nahm ich seine Einladung dankend an, ohne seinem Vorschlag zu wiedersprechen.

Nachdem wir ein hervorragendes Drei-Gänge-Menü verdrückt hatten und ich mich endlich wieder so richtig satt fühlte, unternahmen wir einen Spaziergang durch die Pariser Innenstadt. In der Dunkelheit hatte ich mich dies zuvor nicht sonderlich getraut, da immer wieder vor kriminellen Straßengangs gewarnt wurde.
Wir liefen die Seine entlang. Viele Pärchen waren ebenfalls unterwegs, küssten sich und schmusten miteinander, als wären sie allein. Bei jedem Kuss schaute Sebastian verlegen zu mir herab, woraufhin ich versuchte keinerlei Reaktion zu zeigen. Insgeheim wusste ich, was er versuchte. Der Ort war tatsächlich perfekt für einen ersten Kuss. Auf einer Parkbank saß noch immer ein einsamer Musiker, der Akkordeon spielte und vergeblich um Geld bettelte. Im Hintergrund der erleuchtete Eiffelturm, den ich bisher nur aus meinem Zimmer heraus gesehen hatte. Das Licht der Laternen spiegelte sich im Fluss neben uns und alles wirkte so merkwürdig romantisch, dass ich mich ein wenig unwohl fühlte. Nun standen wir da, in mitten einer perfekten Filmszene. Sebastian und ich. Nein, das klappte einfach nicht.
„Ich habe deinen Blog verfolgt. Du machst das richtig gut.", lobte er mich.
„Wirklich? Danke dir. Sehr lieb."
„Du bist ja schon ordentlich rumgekommen, hmh?"
„Ja, richtig."
„Was hat dir am besten gefallen?"
Konnte ich diese Frage wirklich ohne schlechtes Gewissen beantworten? Überall wo ich war gab es etwas, dass mir ausgesprochen gut gefiel. Ich konnte mich nicht entscheiden, ohne mich dabei schlecht zu fühlen.
„Alles.", antwortete ich dann.
Er zog die Augenbrauen hoch.
„Das hört sich vielleicht kitschig an, aber ich genieße jeden Moment – egal wo ich bin."
„Das freut mich für dich."
„Wie ist es in Hamburg? Alles in Ordnung bei dir?", wollte ich wissen und wir setzten uns wieder in Bewegung.
„Es ist so schrecklich langweilig ohne dich. Ich vermisse dich."
Ich spürte, wie mir wie so oft die Röte ins Gesicht stieg.
„Und jetzt abgesehen von mir?", versuchte ich von mir abzulenken.
Sebastian zögerte.
„Nun, die Vorlesungen die ich halte sind eintönig. Aber ich habe keine wirkliche Lust etwas daran zu verändern. Oh und mich hat in letzter Zeit leider keine hübsche Studentin fast umgerannt."
Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung im Unigebäude (und die unangenehmen Stunden danach). Dabei musste ich lächeln.
„Dumm gelaufen, was?", lachte ich und hakte mich bei ihm ein.
„Wann kommst du wieder?"
„Ich weiß es nicht."
„Und wohin gehst du als Nächstes?"
„Ich weiß es nicht.", wiederholte ich.

Notiz an mich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt